Der UKIP-Erfolg wird die Populisten nicht an die Macht bringen. Aber zum ersten Mal ist der Austritt aus der Europäischen Union nicht mehr unvorstellbar.
London. Die Zahl der fertiggestellten neuen Unterkünfte in England betrug im vergangenen Jahr 109.370. Zugleich ließen sich 212.000 Einwanderer dauerhaft in Großbritannien nieder. Die Wartezeit für Operationen im öffentlichen Gesundheitsdienst erreicht im August 2013 mit 2,9 Millionen den höchsten Stand seit 2008. Mit einem Zuwachs von 17 Prozent war Peterborough in Cambridgeshire in den Jahren 2002 bis 2012 die am schnellsten wachsende Stadt des Landes. Die Anzahl der Jobs nahm jedoch nur um 5,4 Prozent zu.
Großbritannien ist in einem rasanten Umbruch, das Land weiß nicht, wie es damit umgehen soll. Fünf Jahre Wirtschaftskrise haben eine tiefe Schneise nicht nur in die Geldbörsen, sondern auch in das nationale Selbstwertbefinden geschlagen.
Das Land liebt jene, die sich über sich selbst lustig machen können. Wie Nigel Farage, der über das letzte Wahlprogramm seiner Partei sagt: „Ich habe es nie gelesen. Es waren 468 Seiten Blödsinn.“ Farage ist Chef der United Kingdom Independence Party (UKIP) und hat mit seiner Truppe aus „Verrückten, Beklopften und heimlichen Rassisten“ (so einst Premierminister David Cameron) soeben die EU-Wahlen in Großbritannien gewonnen. Mit 27,5 Prozent der Stimmen wurde erstmals seit über 100 Jahren nicht eine der beiden Traditionsparteien Konservative (23,9 Prozent) oder Labour (25,4 Prozent) stärkste Kraft. Zu Recht sprach Farage von einem „historischen Erfolg“.
Auf die Herausforderungen, vor denen das Land steht, hat auch UKIP keine Antworten. Aber Farages Partei hat keine Scheu, einen Schuldigen zu benennen: die EU. Sie habe dem Land die Souveränität genommen und die Masseneinwanderung der letzten zehn Jahre erst möglich gemacht. Dass die Entscheidung zur Grenzöffnung in London fiel; dass Großbritannien dringend auf Einwanderer angewiesen ist; dass das Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert – all das zählt nicht. Worum es geht, ist die Schaffung einer Illusion von einer Heimkehr in eine angeblich bessere Vergangenheit. Nicht zufällig ist Farage meist wie Mister Bean gekleidet.
Konservative und Labour haben diesem Lockruf bisher nichts entgegenzusetzen. Labour hat im Wahlkampf versucht, UKIP totzuschweigen. Die Tories haben Grund, sich ernste Sorgen zu machen, denn Farage wildert in ihren ureigensten Gefilden. Premier Cameron sagte gestern, die Menschen seien von der EU „enttäuscht“, und er habe „die Nachricht erhalten und verstanden“. Die Liberalen, denen genau ein EU-Parlamentarier blieb, wurden erwartungsgemäß zerrieben.
Die wirklich aktive Antithese zu UKIP verkörpern heute die schottischen Nationalisten (SNP), die dem engstirnigen englischen UKIP-Nationalismus ihre Vision eines weltoffen schottischen Nationalismus entgegenstellen. Doch beide wollen in einem Punkt dasselbe: eine Zerstörung der bestehenden Ordnung, nicht ihre Reform oder Wandlung, und einen Neuanfang. Was für die „Nats“ Großbritannien ist, ist für UKIP die EU.
In dem Roman „The Shape of Things to Come“ („Was kommen wird“) entwarf H.G. Wells 1933 die Utopie einer Weltregierung als Ausweg vor den Herausforderungen der Menschheit. Ähnliche Hoffnungen hat man sich einst von der EU gemacht. Nach dem Wahlergebnis ist der Austritt Großbritanniens aus der EU nicht mehr unvorstellbar. (gar)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2014)