Wie der Gezi-Protest die Türkei verändert hat

TURKEY PROTEST
TURKEY PROTEST(c) APA/EPA/TOLGA BOZOGLU (TOLGA BOZOGLU)
  • Drucken

Ein Jahr nach den Gezi-Park-Unruhen ist das Aufbegehren für viele junge Türken zur Bürgerpflicht geworden. Geschadet haben die Proteste Premier Erdoğan jedoch nicht.

Istanbul. Die Vögel zwitschern wieder im Gezi-Park. Es ist ein sonniger Abend Ende Mai, und die Bäume in der kleinen Grünanlage im Herzen der türkischen Metropole Istanbul ziehen die Singvögel genauso an wie Spaziergänger, Studenten und Imbissverkäufer. Das Blätterdach dämpft das Sonnenlicht und den Verkehrslärm, der von den Straßen um den Taksim-Platz neben dem Park herüberdringt. „Wenn wir nicht gewesen wären“, sagt der Grafiker Alpaslan Armutlu, der nach der Arbeit durch den Park nach Hause geht, „dann stünden hier jetzt keine Bäume, sondern ein Einkaufszentrum“.

Armutlu, 44, hat mitgekämpft vor genau einem Jahr, als sich eine spontan entstandene Protestbewegung gegen die Baupläne der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan im Gezi-Park wehrte. Am 28. Mai 2013 gingen die türkischen Sicherheitskräfte mit übertriebener Gewalt gegen eine kleine Gruppe von Umweltschützern vor, die im Park gegen die geplante Abholzung von Bäumen protestierte. Der Einsatz löste einen Flächenbrand aus, der mit Demonstrationen und Straßenschlachten wochenlang die ganze Türkei erfasste, sieben Menschen das Leben kostete und tausende verletzte. Die Gerichte haben Erdoğans Projekt für den Park inzwischen gestoppt, die Bäume bleiben. Hat die Protestbewegung also gewonnen? Arda Kivilcim ist da nicht so sicher. Auch der 28-jährige Junglehrer stand vor einem Jahr auf den Barrikaden der Demonstranten, die zwei Wochen lang im Gezi-Park in einer Zeltstadt lebten, bevor sie Mitte Juni von der Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern vertrieben wurden.

„Wir haben damals jede Menge Gas geschluckt“, sagt Kivilcim. Dass es am Ende etwas gebracht hat, glaubt er aber nicht. „Seit Gezi hat sich in der Türkei nichts verändert, und wenn, dann in eine negative Richtung.“ Erdoğan nennt er einen Diktator. „Wir hatten auf Freiheit gehofft, aber stattdessen gibt es nur mehr Druck.“

„Wie am Vorabend eines Bürgerkriegs“

Leute wie Kivilcim gibt es viele in der Türkei. In den vergangenen Wochen waren sie wieder zu zehntausenden auf den Straßen des Landes, um gegen das Behördenversagen beim Grubenunglück von Soma zu protestieren. Erdoğan ließ die neuen Protestmärsche genauso rücksichtslos niederschlagen wie die Gezi-Demonstrationen.

Dennoch ist die Türkei nicht mehr das Land, das sie vor Gezi war, sagt der Ankaraner Politologe Fethi Açikel. Eine ganze Generation sei mit einem Schlag politisiert worden: „Die Gezi-Proteste markierten einen radikalen Bruch in Mentalität und Umgangsformen der türkischen Gesellschaft.“ Das Aufbegehren gegen die Regierung ist für viele Türken, besonders für die jungen, seit Gezi zur Bürgerpflicht geworden. Die verbreitete Parole „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“ ist Kennwort dieser Einstellung.

Auch Erdoğan kennt den Schlachtruf, nur ist der Spruch für ihn kein Ausdruck von Basisdemokratie, sondern Motto eines Putschversuchs dunkler Kräfte gegen die gewählte Regierung. Er schimpft über die „Terroristen“ von Gezi und anderswo, lobt die Polizei für ihr hartes Durchgreifen und weigert sich, auf die Protestbewegung zuzugehen. Mit der Polarisierung mobilisiert er seine eigene konservative Wählerschaft – mit Erfolg, wie sein Sieg bei den Kommunalwahlen Ende März zeigte. Doch auch an Erdoğan und seiner Regierungspartei AKP sind die Gezi-Ereignisse nicht spurlos vorbeigegangen. Die Unterdrückung einer weitgehend friedlichen, demokratischen und kosmopolitischen Opposition durch die Regierung habe dem Image des Ministerpräsidenten und seiner Partei schwer geschadet, sagt Açikel. In Europa wächst seit Gezi der Argwohn gegenüber Erdoğan. Vor mehr als zehn Jahren als Reformkraft angetreten, hat die AKP heute nicht zuletzt wegen Gezi den Ruf einer repressiven Partei, die jeden Widerspruch niederknüppeln lässt.

Im Gezi-Park können Passanten das nur bestätigen. Um den Gezi-Jahrestag herum werde es sicher neue Proteste geben, sagt der Hotelangestellte Ahmet, der nur seinen Vornamen nennen will. „Aber die Regierung wird wieder die Polizei schicken – die Polizei ist nicht mehr der Beschützer der Bevölkerung, sondern die Armee der Regierung.“ Ahmet sagt, er fühle sich „wie am Vorabend eines Bürgerkrieges“.

Der Druck von Erdoğans Sicherheitsapparat ist nicht der einzige Grund dafür, dass sich Leute wie Ahmet so machtlos fühlen. Die Gezi-Bewegung hat es trotz ihrer vielen Anhänger – nach Zählung des türkischen Innenministeriums gingen bei den Protesten im vergangenen Jahr 2,5 Millionen Menschen auf die Straße – nicht vermocht, sich politisch auf Dauer Gehör zu verschaffen. Zwar wurde eine „Gezi-Partei“ gegründet, doch ist diese bedeutungslos geblieben. Bei den kürzlich abgehaltenen Kommunalwahlen blieb ein Sturm von Kandidaten der Protestbewegung auf die Rathäuser aus, es gab nicht einmal ein laues Lüftchen.

Erdoğan braucht 50 und eine Stimme

Im Gezi-Park wundert sich der Friseur Rotinda Bilmez über seine Landsleute. „Da gibt es diese großen Proteste, und dann gehen die Leute hin und wählen trotzdem wieder die AKP“, sagt er. Doch Politologe Açikel ist überzeugt, dass die politischen Langzeitfolgen von Gezi derzeit noch nicht richtig spürbar sind. Es werde einige Zeit vergehen, bis die Unruhen „zur Geburt einer neuen politischen Generation, einer neuen politischen Kultur und ihrer politischen Elite“ führen würden: „Ich habe den Eindruck, dass es nicht allzu lange dauern wird.“

Zudem müsse Erdoğan aufpassen, dass er es mit der Polarisierung nicht übertreibe. „Wenn es über einen gewissen Punkt hinausgeht, wird es kontraproduktiv“, sagt Açikel. Und das könnte eine Rolle bei den Präsidentschaftswahlen im August spielen. Erdoğan, dessen Kandidatur als sicher gilt, braucht für einen Sieg in der ersten Runde mindestens 50 Prozent plus eine Stimme – dafür reicht seine eigene Wählerbasis nicht aus.

Im Gezi-Park ist die Sonne untergegangen, die ersten Imbissverkäufer packen ihre Stände ein. Der Musiker Serdal Yildirim ist sicher, dass Istanbul und vielleicht auch der Park selbst in den kommenden Wochen und Monaten neue Proteste erleben werden. „Das wird so lange weitergehen, wie Erdoğan an der Macht ist“, sagt er. Die Hoffnung auf Veränderungen in seinem Land will er nicht aufgeben. „Irgendwann wird auch diese Regierung gehen.“

AUF EINEN BLICK

Gezi-Park. In der Nähe des Istanbuler Taksim-Platzes sollte der Gezi-Park bebaut werden. Dagegen protestierte im Mai des Vorjahres eine kleine Umweltschutzgruppe. Die gewaltsame Niederschlagung des Protests führte zu einem politischen Flächenbrand in vielen Städten des Landes. Die Polizei setzte Tränengas und Pfefferspray ein, Hunderte wurden verletzt. In den folgenden zwei Monaten nach Aufflammen der Proteste starben offiziellen Angaben zufolge fünf Menschen, darunter ein Polizist. Weitere Todesfälle mit unmittelbarem Bezug zu den Protesten sind in dieser Statistik nicht enthalten.

So geriet etwa der 15-jährige Berkin Elvan während der Proteste – als er Brot einkaufen wollte – zwischen die Fronten, wurde durch Schüsse verletzt und erlag nach neunmonatigem Koma seinen Verletzungen. Beim Umgang mit den Demonstranten räumte Premier Erdoğan später zwar Fehler ein, behielt seine scharfe Diktion gegen die Protestierenden aber bei. Neue Proteste flammten in der Türkei nach dem Grubenunglück im westtürkischen Soma Mitte Mai auf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Türkei: "Das ist ein Polizeistaat"
Außenpolitik

Türkei: "Das ist ein Polizeistaat"

Die Polizei ging erneut gegen Demonstranten vor. Im Außenamt dementiert man Berichte, wonach Österreicher festgenommen wurden.
Taksim-Platz und Gezi-Park wieder geöffnet
Außenpolitik

Eskalation in Ankara: Polizei setzt Tränengas ein

In Ankara setzte die Polizei am Sonntag wieder Tränengas und Wasserwerfer gegen Demonstranten ein.
TURKEY PROTEST ANNIVERSARY
Außenpolitik

Istanbul: Polizei setzt Tränengas gegen Demonstranten ein

Auf der Einkaufstraße nahe des abgeriegelten Taksim-Platzes war am Jahrestag der Gezi-Proteste eine Anti-Regierungs-Versammlung geplant.
Archivbild: Taksim-Platz
Außenpolitik

Türkei: Proteste der Gezi-Bewegung für Jahrestag geplant

Am kommenden Samstag jährt sich der Beginn der Gezi-Bewegung zum ersten Mal. Landesweite Demonstrationen sind angekündigt.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.