Vieles spricht für Brasilien – aber eben nicht alles

FREUNDSCHAFTLICHES FUSSBALL TESTSPIEL: KAMERUN - PARAGUAY
FREUNDSCHAFTLICHES FUSSBALL TESTSPIEL: KAMERUN - PARAGUAYAPA/EXPA/JFK
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32 Mannschaften werden die Weltmeisterschaft in Brasilien bestreiten. „Die Presse am Sonntag“ hat die Teilnehmer gewogen – und eine erste Bewertung vorgenommen.

Die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien, die am 12.Juni mit dem Spiel zwischen dem Gastgeber und Kroatien in São Paulo eröffnet wird, ist die 20. Endrunde in der Geschichte der Fifa. Der brasilianische Verband (Confederação Brasileira de Futebol, CBF) wird heuer 100 Jahre alt, darum hat die südamerikanische Konföderation auch nur einen Kandidaten ins Rennen geschickt. Brasilien erhielt im Oktober 2007 den Zuschlag, die erste Weltmeisterschaft hatte man 1950 ausgetragen. Das letzte große Turnier in Brasilien war die Copa América im Jahr 1989.

Insgesamt stehen bis 13. Juli (Finale in Rio de Janeiro) 64 Spiele auf dem Programm, ausgetragen werden sie in zwölf Städten. 32 Mannschaften haben sich qualifiziert, davon kommen 13 aus Europa, neben Brasilien weitere fünf aus Südamerika (Kolumbien, Ekuador, Argentinien, Chile, Uruguay). Die Afrikaner sind durch Algerien, Elfenbeinküste, Ghana, Nigeria und Kamerun vertreten, auch die Australier sind dabei, ebenso Japan und Südkorea. Aus Nord- und Mittelamerika haben es die USA, Mexiko, Honduras und Costa Rica geschafft.

Der Topfavorit


Wenn es eine Mannschaft gibt, die mit den Bedingungen in Brasilien ohne größere Schwierigkeiten zurechtkommt, dann ist es – der Gastgeber. Noch vor zwei Jahren steckte die Seleção in einer Krise, die Brasilianer hatten nicht das Gefühl, für die Endrunde im eigenen Land gewappnet zu sein. Also zog der Verband die Notbremse, Trainer Mano Menezes wurde gefeuert, der neue Hoffnungsträger heißt Luiz Felipe Scolari. Der 65-Jährige ist ein alter Fuchs, er hat die Seleção zum bislang letzten WM-Titel geführt (2002, 2:0-Finalsieg gegen Deutschland). Zudem wurde Carlos Alberto Parreira als technischer Berater engagiert, er war WM-Trainer 1994. Auch damals krönte man sich zum Champion.

Diesmal spricht das ganze Land vom sechsten WM-Titel, die Mannschaft steht gewaltig unter Druck. Aber sie hat im Vorjahr bewiesen, dass sie damit umgehen kann. Die Leistungen beim Confed-Cup, der WM-Generalprobe, waren vielleicht nicht ganz souverän, im Endspiel aber fertigte man dann mit Spanien den Titelverteidiger klar mit 3:0 ab. „Der Riese ist erwacht!“

Die Brasilianer sind wieder eine Macht im Weltfußball, dabei hatte es Scolari anfangs schwer, eine Elf zu formen, die an erfolgreiche Zeiten erinnert. Zunächst fehlten dem Team die bekannten Gesichter, Rückhalt bei den Fans gab es auch keinen. „Jetzt haben wir wieder das Selbstvertrauen, den Titel zu holen“, so Scolari. Die Balance stimmt, die Brasilianer verfügen über eine tolle Defensivabteilung (Thiago Silva, David Luiz, Dani Alves, Marcelo etc.), haben in der Offensive nichts eingebüßt.

Viel wird davon abhängen, in welcher Verfassung sich Jungstar Neymar präsentiert. Beim Confed-Cup hat er vier Treffer (einen davon im Finale) erzielt, beim FC Barcelona aber ist es nicht ganz so rund gelaufen.

Die Mitfavoriten


Viele Experten melden Zweifel daran an, dass eine europäische Mannschaft in Brasilien überhaupt erfolgreich sein kann. Ein Blick zurück bestätigt die Theorie, dass andere Nationen zu bevorzugen sind. Aber auch für die WM 2014 gilt: Der Weg zum Titel geht nur über Spanien. Der Welt- und Europameister hat immer noch die Klasse, ein Turnier erfolgreich abzuschließen. Die Erfolge der spanischen Vereine (Champions League, Europa League) haben das voreilige Urteil, dass sich die Fußballnation auf dem absteigenden Ast befindet, klar widerlegt.

Einige Stützen sind in die Jahre gekommen, Xavi (34), Xabi Alonso (32) und Andrés Iniesta (30) aber gehören immer noch zu den bemerkenswerten Spielern in Europa. „Wir sind immer noch gierig und heiß“, behauptet Teamchef Vicente del Bosque. „Aber das aufrechtzuerhalten ist nach drei großen Titeln schwierig. Darum müssen wir bescheiden bleiben.“

Im Angriff stehen David Silva, Pedro, Fernando Torres, David Villa, Juan Mata zur Verfügung, fraglich ist der Einsatz von Diego Costa. Der Emporkömmling von Atletico Madrid hat im Champions-League-Finale nach nur neun Minuten aufgeben müssen.

Unberechenbar ist Argentinien. Seit dem WM-Finale 1990 in Rom (0:1 gegen Deutschland) ist man kein einziges Mal über das Viertelfinale hinausgekommen. 2010 wurde zum Flop, den Misserfolg verkörperte Lionel Messi. Der Superstar ging in Südafrika leer aus, dem Barcelona-Legionär gelang vor vier Jahren kein einziger Treffer. Auch bei der Copa América versagten die Argentinier – ausgerechnet im eigenen Land.

Die WM-Qualifikation hat man jedoch auf Rang eins beendet, mit Ángel Di María (Real Madrid), Sergio Agüero (Manchester City), Gonzalo Higuaín und eben Messi verfügt man über eine Art „magisches Quartett“, einzige Problemzone ist – der eigene Strafraum. Samt Torhüter-Misere. Denn Sergio Romero (AS Monaco) fehlt der Spielrhythmus.

Zu den Mitfavoriten bei Weltmeisterschaften zählt freilich immer auch Deutschland. Vizeweltmeister 2002, WM-Dritter 2006, WM-Dritter 2010 – und 2014? Bundestrainer Joachim Löw will nach dem Pokal greifen, aber die deutsche Mannschaft leidet ein wenig unter Verletzungspech. Wichtige Stützen sind angeschlagen oder noch nicht ganz fit, Brasilien wird ein Wettlauf mit der Zeit für Khedira, Schweinsteiger und Co. Viel wird davon abhängen, wie man in dieses Turnier startet, zum Auftakt wartet Portugal.

Löw hat seinen Vertrag mit dem DFB bis 2016 verlängert, sollte Deutschland bei der WM enttäuschen, dann wird wohl eine Teamchef-Debatte ausbrechen.

Torschützenkönig 2010 war Thomas Müller (fünf Treffer), Geschichte schreiben kann Miroslav Klose. In seinen bisher 19 WM-Spielen hat er 14 Tore erzielt – eines fehlt noch, um den WM-Rekord von Ronaldo einzustellen. Aber der 35-jährige Klose wird nur spielen, wenn er auch tatsächlich hundertprozentig fit ist. Dann dürfte Löw auch auf sein 4-2-3-1-System zurückgreifen. Möglich ist aber auch eine Variante mit einer falschen Neun (hängende Spitze).

Die Geheimfavoriten


Viel wird davon abhängen, ob Englands Spieler des Jahres zur Verfügung steht, denn der Torjäger vom FC Liverpool geht noch am Stock. Mit Luis Suárez ist Uruguay jedenfalls fast alles zuzutrauen. Und La Celeste (Die Himmelblauen) träumen ohnedies von einer Neuauflage von 1950. Damals triumphierte man im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro mit 2:1 – der Gegner war Brasilien. Eine Statue in Montevideo erinnert heute noch an diesen Triumph. Vor vier Jahren war man Vierter.

Uruguay ist vor allem im Angriff hochklassig besetzt, Diego Forlán erlebt seinen dritten Frühling, Edinson Cavani hat bei Paris SG geglänzt. Diego Godin ist ein gefragter Abwehrspieler (Atletico Madrid). Was fehlt, das ist Konstanz.

Wenn Italien die Vorrunde übersteht, dann ist auch der Squadra Azzurra ein Höhenflug zuzutrauen. Andrea Pirlo und Gianluigi Buffon bestreiten ihre letzte WM, bei der EM vor zwei Jahren in Polen und in der Ukraine hat man immerhin die Deutschen gestoppt. Besser gesagt: Die Deutschen sind an Mario Balotelli zerschellt.

Nicht außer Acht lassen darf man Chile. Wobei das ganze Land um Arturo Vidal (Juventus Turin) bangt. Nach einer Knieoperation steht hinter dem Star ein großes Fragezeichen. Die Erwartungshaltung ist groß, Teamchef Jorge Sampaoli will davon nichts wissen. „Unrealistisch!“

Die Wundertüte


Eine Mannschaft, die nur schwer einzuordnen ist, stellen die Belgier. Erstmals seit 2002, als Belgien im Achtelfinale am späteren Weltmeister Brasilien scheiterte, ist man wieder bei einer WM dabei. Und schon wird von einem ähnlichen Erfolg wie 1986 geträumt. Damals kamen die Belgier in Mexiko bis in das Halbfinale. Die heutige Generation ist nicht nur talentiert, sondern steht auch vor einer rosigen Zukunft. Spieler wie Romelu Lukaku, Moussa Dembélé, Marouane Fellaini, Eden Hazard, Vincent Kompany oder Kevin de Bruyne stehen Tür und Tor offen. Und im Tor steht mit Thibaut Courtois einer der besten Keeper Europas. Jean-Marie Pfaff etwa meint: „Nach dem Achtelfinale ist alles möglich.“

Die Fragezeichen


Bleibt Afrika ein unerfülltes Versprechen? 2010 endete alles in Tränen und Enttäuschung, in Südafrika gab es keinen Heimvorteil, die Überraschungen blieben aus. Nur Ghana überlebte die Vorrunde, man warf die USA noch aus dem Bewerb, scheiterte dann im Viertelfinale an Uruguay im Elferschießen.

„Afrika ist stärker, als viele denken“, sagt Anthony Baffoe, der ehemalige Legionär in der deutschen Bundesliga. Ghana hat der 49-Jährige auf der Rechnung. „Wir glauben daran, das Turnier gewinnen zu können“, sagt er. „Und das glauben nicht nur wir.“ Die Afrikaner, so meint Baffoe, seien in der Lage, sich rasch anzupassen. „Bei einer WM, speziell bei dieser, kommt es letztlich auf den Willen an. Und der ist groß in unseren Reihen.“ Er geht sogar noch weiter: „Der afrikanische Fußball ist erwachsen geworden.“ Dank Stars wie Didier Drogba, Samuel Eto'o, Taya Touré, Kevin-Prince Boateng oder Asamoah Gyan. Mit Baffoe wird übrigens ein Ghanaer das Finale auf jeden Fall erleben, er ist in Rio de Janeiro als Fifa-Spielortmanager im Einsatz.

Es gibt Fantasten, die räumen etwa Japan eine Chance auf das Semifinale ein, so ein Erfolg würde allerdings sehr verblüffen. Teamchef Alberto Zaccheroni setzt auf Spieler in Europa – auf Nagatomo (Inter Mailand), Honda (AC Milan) oder Kagawa (Manchester United). Auch aus der deutschen Bundesliga sind etliche Profis dabei. Nicht auszuschließen, dass man gegen Kolumbien, Griechenland und die Elfenbeinküste weiterkommt. Aber deshalb fünf Biere verwetten? Warum dann nicht gleich auf Bosnien tippen? Iran und Nigeria sind sicher auch für einen WM-Neuling zu schlagen.

12 Stadien

32 Teams. 13 aus Europa, sechs aus Südamerika, fünf aus Afrika, vier aus Nord-, Mittelamerika und der Karibik, vier aus Asien. Ozeanien: keines.

Spielorte.

Belo Horizonte, Brasília, Cuiabá, Curitiba, Fortaleza, Manaus, Natal, Recife, Salvador da Bahia, Rio de Janeiro, São Paulo, Porto Alegre.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2014)

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