Lokalaugenschein: Eine Lehrerin zwischen zwei Welten

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Raus aus der Neuen Mittelschule, rein in das Gymnasium: Theresa Wilkinsons Arbeitsplätze befinden sich zwar in derselben Gasse, Unterricht und Leistungsniveau in den beiden Schulen könnten aber kaum unterschiedlicher sein.

Wien. Die Zeit ist knapp: Radschloss entsperren, Helm aufsetzen und ein paar kräftige Tritte in die Pedale – und schon hat Theresa Wilkinson ihren Arbeitsplatz gewechselt. Die Lehrerin unterrichtet nämlich nicht an einer, sondern an zwei Schulen. Die sind zwar in ein und derselben Gasse im neunten Bezirk in Wien angesiedelt, in gewisser Weise liegen aber Welten zwischen ihnen.

„Frau Lehrerin“ wird Wilkinson in der einen Schule gerufen, in der anderen heißt sie „Frau Professor“. Die 29-jährige Englisch- und Biologielehrerin gehört nämlich zu der kleinen Gruppe von AHS-Lehrern, die sowohl an einem Gymnasium als auch an einer Neuen Mittelschule (NMS) unterrichten. Sie erfüllt damit einen Wunsch der Regierung. Deren Grundgedanke war es, in dem neuen Schultyp nicht nur Hauptschullehrer, sondern auch Lehrer aus Gymnasien und berufsbildenden mittleren und höheren Schulen (BMHS) einzusetzen.

Wilkinson wurde dadurch Teil zweier sehr unterschiedlicher Systeme. Es ist Freitagmorgen, acht Uhr. Der Schultag beginnt für sie an der NMS. Dort steht Englisch auf dem Programm. Gelernt wird in einer kleinen Gruppe. „Speaking is still difficult for you“, leitet die Lehrerin die Sprechübung ein. Wenige Augenblick danach – als eine Schülerin zu spät zum Unterricht kommt – bestätigt sich diese Behauptung: „Sorry for Zuspätkommen“, stammelt die Schülerin. Die Englischkenntnisse der Zweitklassler sind – milde gesagt – ausbaufähig. Und sie sind sehr unterschiedlich. Denn während manche Schüler die Sprechübung gut bewältigen, scheitern andere daran, den Satz „I live in Vienna“ richtig vom Zettel abzulesen.

Der Schulwechsel ist unbeliebt

So wird der Unterricht trotz der kleinen Gruppen zur Herausforderung. Kaum kümmert sich Wilkinson um die Schwachen, beginnen die Besseren zu tratschen; und umgekehrt. Zwischendurch diskutieren die Zwölfjährigen schon einmal, ob es legal ist, Wasserpfeife zu rauchen, und wer mit wem zusammen ist.

Nur wenige AHS-Lehrer wagen sich überhaupt an eine NMS. Laut einer aktuellen parlamentarischen Anfragebeantwortung unterrichtet an fast der Hälfte der mehr als 900 Neuen Mittelschulen kein einziger AHS- oder BMHS-Lehrer. Der Einsatz ist zwar nicht verpflichtend, aber stark erwünscht. In Wien können die Neuen Mittelschulen diesem Wunsch so gut wie gar nicht gerecht werden. Denn an 80 Prozent der Neuen Mittelschulen sind keine Bundeslehrer im Einsatz. In Oberösterreich ist das an 65 Prozent der NMS der Fall, in Vorarlberg sind es 60 Prozent. Nur im Burgenland unterrichten an allen NMS AHS- oder BMHS-Pädagogen.

Auch als an Wilkinsons Stammschule, dem BRG 9 in der Glasergasse, die Nachbarschule anklopfte und die AHS-Lehrer einlud, in der NMS zu unterrichten, haben viele dankend abgelehnt. „Ich glaube, es ist die Furcht vor dem, was in der anderen Schule passiert“, sagt Wilkinson. Der Lehrermangel tut sein Übriges. Viele Kollegen seien an der AHS mit Überstunden mehr als ausgelastet.

Wilkinson selbst ist seit drei Jahren an der NMS Glasergasse. „Ich wollte einer gewissen Betriebsblindheit vorbeugen“, argumentiert sie ihre Entscheidung. Bereut hat sie es nicht. Im Gegenteil: Sie will weiter an der NMS bleiben. Die Idee, dass AHS- und NMS-Lehrer gemeinsam unterrichten, hält sie für eine gute. Doch sie weiß: Das politisch hochgelobte Teamteaching ist in der Praxis nicht ganz so einfach zu verwirklichen. Denn gutes Teamteaching braucht auch eine gute Vorbereitung. Und das ist – zumal Wilkinson den Großteil der Woche gar nicht an der NMS verbringt – nicht immer einfach. Koordiniert wird vieles per E-Mail oder Telefon.

„An NMS ist es anstrengender“

Auch nach Wilkinsons zweiter Einheit an der NMS an diesem Freitag bleibt kaum Zeit, sich zu besprechen. Sie muss während der 15-minütigen Pause an die AHS. Am Ziel angekommen bleibt noch Zeit für einen Schluck Wasser. Dann geht es in die dritte Klasse. Der Unterschied wird sofort augenscheinlich.

Die Schüler arbeiten in Zweiergruppen – diszipliniert und motiviert. Sie sind ein Jahr älter als die NMS-Schüler, die Wilkinson in der Stunde zuvor unterrichtet hat, sprechen aber schon fließend Englisch. Sie berichten von ihren Urlauben in Paris und San Francisco – und zwar ganz ohne von einem Zettel abzulesen. Das macht Wilkinson stolz: „You are getting really fluent.“

Ihr selbst macht das Unterrichten an beiden Schulen Spaß. Aber: „Anstrengender ist es in der NMS. Ich muss an der AHS schon viel disziplinieren. An der NMS ist das aber noch mehr“, sagt die Lehrerin. Das Leistungsniveau sei ebenso ein anderes: „Als ich damals sowohl im Gymnasium auch in der NMS eine erste Klasse in Englisch übernahm, machten die Schüler ähnliche Fortschritte. Doch nach zwei Monaten kam der Knackpunkt“, sagt Wilkinson. Plötzlich zogen die AHS-Schüler ihren Kollegen an der NMS davon. Woran das liege, wisse sie nicht. Dass Familie sowie sozialer Hintergrund eine große Rolle spielen, glaube sie schon. Es ist die Kleidung, die Sprache und der Umgang mit den Schulsachen, die sich am deutlichsten unterscheiden, sagt Wilkinson. Das liege nicht an den Kindern allein: „Wenn man die Eltern trifft, versteht man viele Kinder deutlich besser.“

In der politischen Diskussion um die Gesamtschule bezieht sie angesichts ihrer Erfahrungen klar Position: „Ich halte absolut nichts von einer Gesamtschule. Ich finde sogar, dass die ideale Schule noch einmal gesplittet werden sollte.“ In der NMS dürfte das nicht alle freuen. Direktorin Anna Maria Rapp ist jedenfalls ganz anderer Meinung.

AUF EINEN BLICK

An den Neuen Mittelschulen (NMS) sollten Hauptschullehrer gemeinsam mit Pädagogen aus Gymnasien oder berufsbildenden mittleren und höheren Schulen (BMHS) unterrichten. Sechs zusätzliche Wochenstunden sind dafür vorgesehen. Tatsächlich unterrichtet aber an fast der Hälfte der NMS kein einziger AHS- oder BMHS-Lehrer. In Wien ist die Situation besonders schlimm: An rund 80 Prozent der NMS sind keine Bundeslehrer im Einsatz, in Oberösterreich an 65 Prozent der NMS. Die Extra-Stunden werden von Hauptschullehrern übernommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2014)

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