England: Der Sinn für Realismus

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Nach einer Vorbereitung ohne Skandale blicken die "Three Lions" der WM entspannt entgegen - ohne die üblichen Titelhoffnungen.

London. Erstmals seit Menschengedenken scheint sich ein englisches Fußballnationalteam ohne Skandale und Turbulenzen auf eine WM vorzubereiten. Vor acht Jahren hatten die „Wives and Girlfriends“ in Deutschland dafür gesorgt, dass die Mannschaft unter dem Lebemann Sven-Göran Eriksson eher auf den Klatsch- als auf den Sportseiten Furore machte. Vor vier Jahren folgte in Südafrika Zuchtmeister Fabio Capello – Berichte aus dem England-Camp konnten durchgehend mit „Aus der Strafkolonie“ überschrieben werden.

Den Höhepunkt erreichte die miese Stimmung, als Wayne Rooney öffentlich mit einem enttäuschten Fan aneinandergeriet und sich nach einer weiteren enttäuschenden Leistung beschwerte: „Schon seltsam, von den eigenen Anhängern ausgebuht zu werden.“

Wenn es jetzt einen heiklen Punkt in der WM-Vorbereitung gibt, dann geht es wieder um Rooney. Nach einer Leistenverletzung offensichtlich noch weit von seiner Bestform entfernt, steht der Manchester-United-Stürmer seit Tagen im Kreuzfeuer der Kritik. Neben Medien, die fordern, dem 28-Jährigen nicht länger einen Stammplatz einzuräumen, taten sich vor allem die Fußball-Ikonen Gary Linecker und Paul Scholes mit Zweifeln an seiner Fitness hervor. Rooneys Konter: „Das interessiert mich wirklich nicht. Es zählt allein, was unser Trainerstab denkt.“

Wie jedem englischen Teamchef fehlt es auch Roy Hodgson nicht an ungebetenen Ratgebern. Pünktlich vor jeder Endrunde verwandelt sich England in ein Volk von 56.099.999 (nur die Queen hält sich vornehm heraus) Experten. Doch im Gegensatz zu seinen Vorgängern hat der 66-jährige Hodgson lange vor Anpfiff der WM bereits eine ersten, wichtigen Sieg errungen: Sein Team kann ohne die Last übertriebenen Erwartungen in Brasilien antreten, denn nur 28 Prozent der Engländer geben ihren Team eine Chance auf den Titel.

Die richtige Mischung?

Die Erleichterung darüber ist spürbar, und entsprechend entspannt war die Stimmung in der Vorbereitung. „Wenn ich eine Sache mitnehmen könnte, dann wäre es die Atmosphäre in der Mannschaft“, sagte Hodgson kurz vor der Abreise nach Brasilien. Sein 23-Mann-Kader stellt eine scheinbar gelungene Mischung aus Routiniers (Hart, Lampard, Gerrard, Milner) und Talenten (Sterling, Barkley, Lallana, Wilshere, Henderson) dar. Mit einem Durchschnittsalter von 26 Jahren stellt England die zehntjüngste Mannschaft.

Während die Oldies weise werden (Kapitän Gerrard: „Meine Botschaft an die jungen Spieler ist: Spielt ohne Angst und hört auf den Trainer.“), werfen sich die Youngsters mit solcher Energie in den Kampf, dass sie sogar in Freundschaftsspielen ausgeschlossen werden (wie zuletzt Sterling). Das Zuhauselassen von Streithanseln (Terry) und Diven (Cole) wirkt sich auf das Mannschaftsgefüge positiv aus, und von Verletzungen ist man bisher verschont geblieben (nur Oxlade-Chamberlain ist leicht angeschlagen). Ist der WM-Beginn in England traditionell der Moment der allgemeinen Mobilmachung, hat der entspannte Realismus nun auch viel mit der Auslosung zu tun. Mit Italien und Uruguay warten zwei absolute Spitzenteams, nur ein Sieg gegen Costa Rica wird nicht infrage gestellt.

Nimmt man freilich die Leistungen der Qualifikation und der Vorbereitung als Maßstab, kann das Team nur positiv überraschen. Hodgson setzt auf einen uninspirierten Sicherheitskick, der nur durch individuelle Geniestreiche aufgehellt wird. Selbst die Regierung rechnet sich wenig aus. In einem internen Papier heißt es, „die Chancen für einen Aufstieg über die Gruppenphase sind als gering“ einzuschätzen.

Andere sehen bessere Vorzeichen: Als England 1966 Weltmeister wurde, war Real Madrid Europacupsieger, Atletico gewann die spanische Meisterschaft und Österreich den Songcontest – drei von vier Kriterien wären somit also bereits erfüllt. Starphysiker Stephen Hawkins hingegen untersuchte die optimalen Bedingungen, wie England Weltmeister werden könnte. Um es kurz zu machen: Die Chancen tendieren gegen null. Doch wie der Gelehrte selbst einräumte: „Es ist hochkompliziert. Im Vergleich zum Fußball ist Quantenphysik ziemlich einfach.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2014)

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