Abu Ghraib: „Erst geben sie sich nett, dann drehen sie die Schrauben an“

Masked Sunni gunmen hold their weapons as they take their positions during a patrol outside the city of Falluja
Masked Sunni gunmen hold their weapons as they take their positions during a patrol outside the city of FallujaREUTERS
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Die Stadt vor Bagdad mit dem berüchtigten Gefängnis dürfte zum Sprungbrett der Isil-Miliz werden. Eine Reportage.

Ich verstehe nicht, wie sie nach Abu Ghraib kommen konnten“, sagt Abu Hala überrascht in seiner bescheidenen Wohnung, in der der Putz von Decke und Wänden hängt. „Hier ist der Zutritt für Europäer und speziell Journalisten verboten. Zudem kann es sehr gefährlich für Sie werden.“

Kopfschüttelnd steht er auf und eilt fort, um im Laden ums Eck Wasser und Saft zu holen. „Sie wissen“, sagt er noch vorher, „von Abu Ghraib sind es nur 20 Kilometer zu den ersten Stellungen von Daisch. Danach ist gleich Falluja.“ Mit „Daisch“ benutzt Abu Hala die arabische Abkürzung für die sunnitische Miliz Islamischer Staat im Irak und in der Levante (Isil), die am Sonntag im Nordirak und Syrien ein Kalifat ausgerufen hat. Falluja westlich von Bagdad ist bereits Isil-Basis. Abu Ghraib ist durch sein Gefängnis bekannt geworden. Über einen Kilometer ziehen sich dessen Betonwände an der Hauptstraße entlang. Hier sperrte Diktator Saddam Hussein Gegner ein. Nach der US-Invasion 2003 misshandelten dort US-Soldaten Gefangene. Abu Ghraib wurde Symbol der Brutalität der Amerikaner, und als Reaktion eine Brutstätte für Terroristen. Die Amerikaner sind heute weg, das Gefängnis wurde im April geschlossen, die Stadt ist unter Kontrolle der Armee. Aber die radikalen Islamisten sind auch da: „Man kann von 1500 Schläfern ausgehen, die zu Isil gehören“, erklärt Hicham Haschimi vom al-Rafidian-Zentrum für Strategische Studien in Bagdad. „Sie wachen auf, sobald angegriffen wird. Sie würden dann Sicherheits- und Ordnungsfunktionen sowie die Verwaltung der Stadt übernehmen, während die Kampftruppe weiterzieht.“

Der Feind ist schon im Abwehrgürtel

Abu Ghraib liegt im westlichen Verteidigungsgürtel Bagdads und würde gewiss zur Bedrohung, meint Haschimi. Die Region sei schwer vor Infiltration zu schützen, zudem ist der Flughafen nur 20 Kilometer entfernt. Haschimi glaubt, dass 90Prozent der Bagdader Isil willkommen heißen würden: Die sunnitische Bevölkerung hasse die schiitische Regierung und deren Milizen.

„Das ist völlig übertrieben“, behauptet indes Talal Zoubei, der für den Wahlkreis Abu Ghraib im Parlament sitzt. „Obwohl die Bevölkerung von der Regierung diskriminiert wurde, bin ich überzeugt davon, dass sie nie mit Isil kooperieren würde.“ Die Menschen von Abu Ghraib hätten jahrelang zu sehr unter radikalen Islamisten gelitten.

Tod nach Schalmeienklängen

Auch Abu Hala kann Isil nicht ausstehen. Als al-Qaida, ein Vorgänger, in Abu Ghraib das Sagen gehabt hatte, hätten deren Kämpfer nach Lust und Laune gemordet, sagt der 36-jährige Vater dreier Töchter. „Sie schnitten Leuten den Finger wegen Rauchens ab, pafften aber selbst.“ 2008 musste Abu Hala nach Mosul flüchten. Al-Qaida hatte gedroht, ihn zu töten, weil einer seiner Freunde in der Armee diente. 2011 kam er zurück, nachdem durch die Präsenz der Sicherheitskräfte der Regierung ein halbwegs normales Leben möglich war. „Seit Isil aber vor Bagdad steht, hängt für mich wieder alles in der Luft“, sagt er. Viele blieben zu Hause, es gebe kaum noch Arbeit. Für ihn, als Elektriker, ein Desaster. „Sobald der erste Schuss in Abu Ghraib fällt, nehme ich meine Familie und verschwinde. Mit den Islamisten wird alles nur noch schlimmer. Am Anfang geben sie sich nett, danach drehen sie langsam die Schrauben an.“ Das Problem: „Ich weiß nicht, wohin wir flüchten könnten.“

Während Abu Hala spricht, läuft seine jüngste Tochter, eine Zweijährige, barfuß über den Steinboden. Der Vater nimmt sie hoch und herzt sie. Dann weint er. „Vor allen Dingen wollen wir doch nur Arbeitsplätze, Strom nicht nur für acht Stunden am Tag, bessere Krankenhäuser und Straßen“, meint Abu Hala später. Auf der Fahrt durch Abu Ghraib versteht man das sofort: Die Stadt ist verwahrlost. Überall Müll, kaum geteerte Straßen, alle Gebäude desolat. In den anderen Sunnitengebieten des Irak muss es nicht anders sein: Die lange Vernachlässigung durch die schiitisch dominierte Verwaltung und Regierung des Landes, aber auch Übergriffe schiitischer Beamter gegen Sunniten inklusive Folter sind Grund für den Zorn der Sunniten im Irak. Ein Zorn, der sie zur Rebellion und sogar zum Pakt mit Isil trieb – das begründete den jähen Siegeszug der Miliz.

„Wer einen Menschen tötet, hat seine ganze Humanität verloren“, sagt Abu Hala abschließend und bezieht sich damit auf einen Koranvers. „Von diesem Grundsatz lasse ich mich nicht abbringen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2014)

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