Brasilien: „Wie gegen einen Freund im Hinterhof“

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Bei der WM 2006 und 2010 war im Viertelfinale Endstation. Diesmal klammert sich die Seleção wieder einmal an Neymar jr.

Teresopolis/Fortaleza. Seit dem Achtelfinalspiel gegen Chile hat er geschwiegen. Und die ganze Nation hat sich Sorgen um seinen Gesundheitszustand gemacht. Denn ausgerechnet der wichtigste Spieler der Seleção hat Rätsel aufgegeben. Im Duell mit den nicht gerade zimperlichen Chilenen hat er einige Schläge abbekommen, das rechte Knie und der linke Oberschenkel wurden beleidigt. Es lief also unrund, aber Mitte dieser Woche kam die Entwarnung. Brasiliens Nummer 10 ist fit, Neymar jr. steht im heutigen Viertelfinale gegen Kolumbien in Fortaleza zur Verfügung.

Im Teamcamp von Teresopolis wurde Neymar wieder aufgepäppelt. Nach dem Krimi gegen Chile, der viel Kraft gekostet hat, stand in erster Linie Regeneration auf dem Programm. Bei einigen sind Schmerzen geblieben, auch bei Neymar. Trotz Unterwassergymnastik und medizinischer Spezialbehandlung. Teamchef Felipe Scolari nützte die Gelegenheit, um die Fußballwelt daran zu erinnern, dass Schiedsrichter die Pflicht hätten, Spielmacher extra zu schützen. Und das hätte der Engländer Howard Webb nicht getan. Die Fifa-Statistik wirft aus, dass Neymar bei dieser Weltmeisterschaft bislang 14-mal gefoult wurde, Scolari will allein von den Chilenen 15 Tritte gezählt haben.

Spiel und Krieg

Die Sorge des brasilianischen Cheftrainers ist verständlich, schließlich sind die Brasilianer immer noch verstrickt in eine ziemlich schleppende Spielweise. Und ohne Neymar wären sie schon ausgeschieden. Das löst in einem Fußballland wie Brasilien natürlich nicht enden wollende Debatten aus. Vor allem die Psyche der Spieler wurde tagelang beleuchtet.

Der Druck, so fürchten bereits Experten, Ex-Internationale und Fans, sei offenbar zu groß. „Alle haben Angst, der Sündenbock zu werden“, sagt Paulo Vinicius Coelho vom TV-Sender ESPN Brasil. Eine Art Barbosa-Effekt, der Tormann musste für die Niederlage 1950 gegen Uruguay („Marcanazo“) herhalten. „Es reicht“, sagt Carlos Alberto Torres, der Kapitän der WM-Mannschaft von 1970. „Schluss jetzt mit der Heulerei!“

Wenn die Sorgen um das Wohlbefinden der Seleção zu groß werden, dann schickt der Verband im Granja Comary sozusagen den personifizierten Sonnenschein vorbei. Denn Neymar jr. ist offenbar der Einzige, der den Brasilianern vor dem Kolumbien-Duell Mut machen kann. Der Barcelona-Superstar ist erst 22, mit seiner Unbekümmertheit aber so wertvoll wie ein Routinier. „Wir sollten so spielen, wie man gegen einen Freund in einem Hinterhof spielt“, sagt er. „Bleibt ganz ruhig“, lautete seine Botschaft. „Mir geht es gut.“

Auch Neymar hat die Teampsychologin kontaktiert, so wie andere Teamkollegen auch. „Ihr solltet so etwas auch machen“, meint er grinsend. „Das tut allen Menschen gut. Aber noch einmal: Wir haben keine emotionalen Probleme!“ Und er selbst unterstrich, sich nicht überfordert zu fühlen. „Nicht auf dem Platz und nicht außerhalb. Wenn Brasilien Weltmeister wird, dann bin ich zufrieden. Das ist alles, was ich will.“

Die über 200 Medienvertreter in Teresopolis hängen an den Lippen des Jungstars. Vor dem Duell mit Kolumbien sagt er: „Wir wollen, dass am Ende alle Menschen lachen. Oder weinen vor Freude.“ Neymar ist mit Talent gesegnet, aber selbst er muss sich vieles hart erarbeiten. „Klar habe ich eine Gabe. Aber ich nehme das Training als Spiel. Und das Spiel, das gehe ich so an, als wäre es Krieg.“ Lässt sich nicht so einfach anders übersetzen, aber alle wissen, was Neymar meint.

Der 22-Jährige, der bei dieser WM bereits vier Treffer erzielt hat, lebt nach eigenen Angaben einen Traum. „Ich will das erleben, was Ronaldo 2002 erlebt hat“, sagt er. „Über Druck denke ich gar nicht nach.“ Das würde ihn nur lähmen. Und einengen. Ein Neymar jedoch braucht Freiheit. Auch auf dem Platz. Von Scolari bekommt er sie. Den Rücken soll ihm diesmal Paulinho, Ersatz für den gesperrten Luiz Gustavo, freihalten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2014)

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