Kolumbien: Der Stoiker und die Cafeteros

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José Pékerman führt als gewiefter Taktiker die Geheimfavoriten ins Duell mit dem Gastgeber – und will ein Trauma ausmerzen.

An der Jubelgeste können sich die Kolumbianer nicht sattsehen. Schon elfmal haben die Cafeteros im Lauf des Turniers an der Out-Linie ein überschwängliches Freudentänzchen aufgeführt, und selbst über das oft wie versteinert wirkende, graue und von Falten zerfurchte Gesicht José Nestor Pékermans huschte ein Anflug von Verzückung. Einmal schickte der argentinische Trainer der Kolumbianer seiner Frau Matilde im Publikum ein Küsschen, und als James Rodriguez sein Team zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ins WM-Viertelfinale schoss, schwelgte auch der 64-jährige Fußballstratege im moderaten Freudentaumel. Überschäumender Jubel ist nicht seine Sache.

Erinnerungen an Fußballweltmeisterschaften lassen in Pékerman dann auch eher das Grauen aufsteigen. Als 1978 die WM in seiner argentinischen Heimat über die Bühne ging, kurvte der Nachfahre jüdischer Immigranten aus der Ukraine als Taxifahrer durch Buenos Aires. Kurz zuvor hatte eine schwere Knieverletzung die Karriere des 28-jährigen Mittelfeldspielers beendet, als er in Diensten des kolumbianischen Klubs Independiente Medellín stand. Ins Nationalteam hatte er es ohnehin nie geschafft.

Das Trauma von Berlin

Noch schlimmer kam es 28 Jahre später bei der WM in Deutschland. Als gefeierter Nachwuchstrainer, der mit Argentiniens U-20-Team dreimal den WM-Titel erobert und eine ganze Generation an Talenten von Agüero über Di María und Messi bis Tevez an die Spitze geführt hatte, hatte José Pékerman inzwischen die „heilige“ Albiceleste – das Nationalteam – übernommen. Er hatte sich Häme von Fußballnationalhelden gefallen lassen müssen, von den Weltmeistertrainern Menotti und Bilardo. Und Diego Maradona, der selbst auf den Posten erpicht war, qualifizierte ihn als „Jugendtrainer“ ab. Souverän gelang indessen der Aufstieg ins Viertelfinale, als für Pékerman der Albtraum begann – ein Trauma, das ihn bis heute verfolgt.

Im Olympiastadion in Berlin lag Argentinien am 30. Juni 2006 gegen Gastgeber Deutschland 1:0 in Führung, als der Teamchef erst Spielmacher Riquelme und später Stürmer Hernán Crespo austauschte, das Wunderkind Lionel Messi aber auf der Bank ausharren ließ. Prompt erzielte Miroslav Klose den Ausgleich, und im Elfmeterschießen kramte Tormann Jens Lehmann einen Spickzettel hervor, auf dem die Geheimnisse der argentinischen Elferschützen notiert waren. Esteban Cambiasso scheiterte an Lehmann, Argentinien flog aus dem Turnier – und José Pékerman, als Witzfigur verhöhnt, trat noch am selben Abend zurück.

Um dem Spott in der Heimat zu entkommen, verzog er sich in den hintersten Winkel der lateinamerikanischen Welt: In Mexiko übernahm er einen Provinzklub. Doch selbst als Nationaltrainer Kolumbiens holte ihn in Brasilien die unvermeidliche Frage eines Reporters ein, warum er denn damals nicht Messi ins Spiel gebracht habe. „Man erinnert mich oft daran, und vergisst darüber alles andere“, antwortete er mit gequältem Lächeln.

Ein Land im Taumel

Auch in Kolumbien war der Stoiker Pékerman nicht unumstritten. Er kam erst als Verlegenheitslösung zum Zug, als die WM-Qualifikation auf dem Spiel stand. Mittlerweile bringt ihm das Land, in dem einst seine Tochter auf die Welt kam und mit dem er sich schon allein deshalb verbunden fühlt, eine guruhafte Verehrung entgegen. Von der Karibik bis zu den Anden liegt Kolumbien vor dem Duell mit Brasilien im Taumel. Heimische Fußballlegenden wie Carlos Valderrama preisen Pékermans Taktik, Präsident Juan Manuel Santos trug ihm unlängst sogar die Staatsbürgerschaft an.

Ohne Superstar Radamel Falcao formte Pékerman ein Team wie aus einem Guss, das es zum Geheimfavoriten gebracht und mit James Rodriguez einen neuen Weltstar hergebracht hat. Die Zeitung „El Tiempo“ schwärmt von „purer Magie“: „Pékerman muss scheinbar nur mit den Fingern schnippen, und heraus kommen Tore, Triumphe, Huldigungen.“ Der Teamchef versucht derweil, die Euphorie zu dämpfen: „Lasst uns sehen, wie weit uns das trägt.“ Als Finalgegner wünscht er sich indes – wie könnte es anders sein – Argentinien.

ZUR PERSON

José Nestor Pékerman. Kolumbiens Nationaltrainer hat einst zwar für Independiente Medellín gespielt, als gebürtiger Argentinier hat der Nachfahre jüdischer Immigranten aus der Ukraine erst das U-20-Team seiner Heimat dreimal zum WM-Titel führen müssen. Als Teamchef Argentiniens scheiterte er bei der WM 2006 im Elferschießen im Viertelfinale an Gastgeber Deutschland.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2014)

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