Die Richtlinienkompetenz stärkt die Stellung des Regierungschefs – aber nur in der Theorie.
Berlin. „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik“: So steht es im deutschen Grundgesetz. In der Praxis aber hängt es von der persönlichen Autorität ab, ob sich ein Regierungschef gegen störrische Minister durchsetzen kann. In einer Großen Koalition ist die Richtlinienkompetenz gegenüber den Ressorts der anderen Partei fast außer Kraft gesetzt. Der Partner könnte im Ernstfall ja jederzeit mit dem Absprung drohen.
Das „Kanzlerprinzip“ ist deshalb unter Politologen umstritten. Viele halten es für überschätzt, wertlos oder obsolet. Tatsächlich hat es noch nie ein Kanzler offiziell angewandt und durchgesetzt. Öfter mit einem solchen Machtwort gedroht hat Gerard Schröder (SPD). Zu Beginn der rot-grünen Koalition befahl er Umweltminister Trittin, gegen dessen Willen eine Altautorichtlinie im EU-Ministerrat zu verhindern. Trittin beugte sich und verhandelte einen Kompromiss. Allerdings besaß der Grüne damals kaum Rückhalt in seiner eigenen Partei. Wie sehr es auf informelle Macht ankommt, zeigt auch das Beispiel Merkel: Zu Beginn ihrer ersten Kanzlerschaft 2005 ging man davon aus, sie könne eine Große Koalition bestenfalls moderieren. Heute geschieht zumindest in ihren eigenen Reihen sehr selten etwas gegen ihren Willen. (gau)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2014)