Tour: Nibali fährt auf den Spuren des Piraten

FRANCE CYCLING TOUR DE FRANCE 2014
FRANCE CYCLING TOUR DE FRANCE 2014APA/EPA/YOAN VALAT
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Ohne seine härtesten Rivalen steuert Vincenzo Nibali bei der Tour de France dem ersten Gesamtsieg entgegen. Mit einem Erfolg würde der Italiener zu den ganz Großen des Radsports aufsteigen.

Er ist der große Favorit auf den Sieg bei der Tour de France. Und auch der einzige, der der 101. Auflage geblieben ist. Vincenzo Nibali steuert nach den Ausfällen von Titelverteidiger Chris Froome (fünfte Etappe) und Alberto Contador (zehnte Etappe) auf ein einsames Rennen an der Spitze bis nach Paris zu. „Es sieht sehr leicht aus, aber genau das sind die gefährlichsten Situationen“, gab sich der Italiener betont zurückhaltend. „Man darf seine Gegner nie unterschätzen.“ All den Beteuerungen zum Trotz kann sich Nibali wohl nur noch selbst schlagen. Seit vergangenem Montag trägt er wieder das Gelbe Trikot und baute seine Führung zuletzt in den Alpen in eindrucksvoller Manier aus. Über vier Minuten Vorsprung auf den Spanier Alejandro Valverde nimmt der 29-Jährige in die letzte Tour-Woche mit den Hochgebirgsetappen in den Pyrenäen mit.

Einem Erfolg Nibalis würde freilich stets der Makel der Ausfälle der beiden Topfavoriten anhängen, doch das stört ihn wenig. „Es ist schade, dass die Tour zwei ihrer Hauptdarsteller verloren hat. Trotzdem wäre ich überaus stolz, in Marco Pantanis Fußstapfen zu treten“, betonte er. „Il Pirata“ bescherte Italien 1998 den letzten Tour-Sieg. Seit dessen unrühmlichem Tod durch eine Überdosis Kokain vor zehn Jahren lechzt die radsportverliebte Nation nach einem neuen Helden. Spätestens seit seinem Giro-Triumph im Vorjahr ist Nibali in diese Rolle geschlüpft und könnte nun mit einem Erfolg in Frankreich in die Riege der ganz Großen des Radsports aufsteigen: Er wäre der erst sechste Fahrer, der bei allen drei Grand Tours gewonnen hat. Für diesen Fall hat Nibali der Mutter des verstorbenen Pantani bereits einen Besuch versprochen. „Sie hat mir einst eines seiner Gelben Trikots angeboten, dafür will ich mich nun revanchieren.“

Selbst in den größten Erfolgsmomenten droht Nibali nie die Bodenhaftung zu verlieren. Noch heute erzählt der Sohn zweier Videothekbesitzer aus Messina mit glänzenden Augen davon, wie er einst als Kind mit seinem Vater auf den Ätna fuhr. Als die Kräfte nachließen, band er sein Rad kurzerhand an das Auto seiner Mutter und ließ sich hinaufziehen. Aufgeben war schon damals keine Option. Für seine Leidenschaft war Nibali auch zu großen Opfern bereit und übersiedelte im Alter von 16 Jahren in die Toskana. „Für meinen Traum, Rad-Profi zu werden, musste ich zuerst einmal alles aufgeben. Meine Heimat, meine Familie, meine Freunde.“ Seit zwei Jahren lebt der 29-Jährige mit seiner Ehefrau zurückgezogen im Schweizer Lugano. Von sizilianischer Heißblütigkeit ist nichts zu merken, sobald Nibali vom Rad absteigt, meidet er Rampenlicht und Medien so gut es geht.


Risikofreudig.
Als klassischer Allrounder ist Nibali ebenso stark bei Anstiegen wie furchtlos in Abfahrten und gibt auch im Zeitfahren eine gute Figur ab. Doch es sind nicht vorrangig Kraft und Ausdauer, mit denen er besticht, sondern es ist sein erfrischender Fahrstil. Im Gegensatz zu gewieften Taktikern wie Bradley Wiggins oder Chris Froome setzt der Italiener auf Überraschung und Adrenalin. „Der Hai von Messina“ wird er ob seiner Aggressivität genannt, denn er scheut keine Risken – sein größter Trumpf, zugleich aber auch seine größte Schwäche. Sinnbildlich dafür steht seine fast schon legendäre Soloflucht bei der Lombardei-Rundfahrt 2011, als er rund 50 Kilometer vor dem Ende angriff und im Ziel dann sieben Minuten Rückstand hatte. „Natürlich hat es mir auch Niederlagen gebracht, aber das ist eben meine Art zu fahren. Ich liebe es, Sachen auszuprobieren und den Fans etwas zu bieten“, betonte Nibali.

Sahen sich Wiggins und Froome bei ihren Siegen bei den vergangenen beiden Tour-Auflagen ständig mit Fragen nach Doping konfrontiert, ist dies bei Nibali nur selten der Fall. Der oftmals allgegenwärtige Generalverdacht ereilte den 29-Jährigen bislang nicht – und das, obwohl er für das stattliche Jahresgehalt von drei Millionen Euro ausgerechnet für Astana fährt, einem Rennstall mit alles andere als makellosem Ruf. Eigentümer ist der kasachische Volksheld Alexander Winokurow, der 2007 selbst des Blutdopings überführt und für zwei Jahre gesperrt worden ist. Zudem war es der heutige Sportliche Direktor, Giuseppe Martinelli, der Pantani 1998 zum Sieg führte. Mit Epo-Unterstützung, wie die nachträglichen Analysen belegt haben. Nibali selbst glaubt an die viel zitierte neue, saubere Generation. „Doping ist ein Thema im Radsport, aber eines, das Teil der Vergangenheit ist. Einzelfälle gibt es natürlich auch jetzt, denn die Idioten sterben leider nie aus.“

STECKBRIEF

1984
wird Vincenzo Nibali in Messina geboren. Mit 16 übersiedelt er in die Toskana, um dem Radsport nachgehen zu können. 2005 wird er Profi.

2010
gewinnt er mit der Vuelta seine erste Grand Tour.

2013
heuert er beim Astana-Team an und feiert einen Heimsieg beim Giro d'Italia.

2014
führt Nibali nach 14 Etappen bei der Tour und könnte als erst sechster Fahrer alle drei großen Rundfahrten gewinnen.
APA

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2014)

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