Die Neuen Alemannen: Vom Aufwachsen am Bodensee

THEMENBILD / WAHLEN IN VORARLBERG / L�NDERPORTR�T: BODENSEE
THEMENBILD / WAHLEN IN VORARLBERG / L�NDERPORTR�T: BODENSEE(c) APA/BARBARA GINDL (BARBARA GINDL)
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Theoretisch funktioniert die Integration in Vorarlberg vorbildlich, praktisch auch – manchmal zumindest. Der Wille ist jedenfalls da.

An einem Tag ist die Deutschlehrerin mit einem CD-Player in die Klasse gekommen und hat, bevor sie das Lied abgespielt hat, so lang über den Inhalt des Textes referiert, bis wir schlaff auf die Tischplatte gestarrt oder ungeduldig auf unseren Stühlen hin und her gerückt sind. Das Lied sei etwas Besonderes, sagte unsere Lehrerin, es erzähle von Elendsquartieren in der Stadt und all den Menschen, die horrende Summen für erbärmliche Behausungen zahlen mussten. Wir sollen also genau zuhören, mahnte sie, denn viele Wörter würden uns bekannt vorkommen.

Das Lied hieß Mietgeld – oder besser: Diregeld – denn es war auf Jiddisch und so beschwingt, dass es die meisten von uns mehrere Male hintereinander hören wollten. Als die Lehrerin dann den Unterricht beendet und den Raum verlassen hatte, saßen einige aus der Klasse um eine Bank herum und plärrten einander an, warum man ausgerechnet „Judenlieder“ lernen müsse, wo es doch in Vorarlberg keinen einzigen Juden gebe, und verstanden habe man vom Text überdies rein gar nichts, jiddisch hin, jiddisch her.

So anders ist Vorarlberg gar nicht, in vielen (gesellschaftspolitischen) Bereichen zumindest. Eine meiner Kindheitserinnerungen ist, dass meine Familie im nächtlichen Dunkel von der Polizei geweckt und eilig nach draußen eskortiert wurde. Die ganze Nacht harrten wir barfuß auf der anderen Straßenseite aus. Wir haben damals in einem Viertel mit vielen Einwanderern gewohnt – die meisten aus der Türkei und Ex-Jugoslawien – und ein paar Witzbolde haben sich gern einen Spaß daraus gemacht, die Polizei anzurufen und zu sagen: „Wir jagen die Ausländerhäuser in die Luft!“ Zwei Mal haben wir das erlebt.

Sommerferien. Ich rede nicht gern schlecht über Vorarlberg, denn trotz allem hat mir dieses Bundesland etwas gegeben, das für Migrantenkinder nicht selbstverständlich ist: ein Daheim. In meinem Kopf ist kein Ort schöner als Hard am Bodensee, denn dort hat alles stattgefunden: das erste Rad, die Badetage in den langen Sommerferien, der erste Liebeskummer, die Verletzungen vom Spielplatz, das mühselige Zusammenklauben der zwei jüngeren Geschwister zum Abendessen.

Vorarlberg wird im innerösterreichischen Kontext immer Pionierarbeit im Bereich Integration nachgesagt. Tatsächlich gab es im Ländle schon Initiativen und Zielsetzungen, da haben die restlichen Länder noch bei dem Wort Integration herumlamentiert (wiewohl der Vorarlberger Zugang zu Beginn paternalistisch und folkloristisch war, aber immerhin). Dornbirn hat im Jahr 2002 als erste Stadt der Republik ein Integrationsleitbild beschlossen, und es sind vor allem die Kommunen, die Projekte und Ideen zum Thema Inklusion in die Tat umsetzen. Das Spektrum der Integrationsbemühungen ist derart bunt, dass eine pauschale Beschreibung gar nicht möglich ist. Noch etwas ist bemerkenswert: Viele Initiativen kommen von den konservativen bzw. rechten Parteien. Hier wird also gemacht, anstatt nur zu reden – eine sehr vorarlbergerische Eigenheit, wie ich finde.

Was Integration betrifft, kann ich aus subjektiver Sicht zumindest sagen, dass sich auf den Bierbänken bei den Faschingsfesten immer auch Migranten befunden haben – und gegen Mitternacht konnten sie auch nicht besser stehen als die anderen.

Studium.
In Vorarlberg ist die Welt im Kleinen, hier kann Integration naturgemäß besser funktionieren. Ich kenne kein einziges Migrantenkind, das nicht akzentfrei Alemannisch parlieren kann. In meiner berufsbildenden höheren Schule waren in jeder Klasse mindestens zwei türkische Mädchen, insgesamt kenne ich mehr weibliche türkischstämmige Vorarlberger, die Matura haben, als männliche. In unserer Straße im Einwandererviertel haben sich die Eltern gern damit gebrüstet, dass ihre Kinder bald studieren gehen würden, Jus, Psychologie, Wirtschaft... Die vollverschleierte Tochter unserer türkisch-konservativen Nachbarn hat in Innsbruck Medizin studiert (ehe sie geheiratet hat und Hausfrau wurde). Ob die Migranten also in Vorarlberg besser integriert sind als anderswo, kann ich freilich nicht pauschal sagen. Ich glaube es irgendwie schon, auch wenn ich weiß, dass vor allem innerhalb der türkischen Community die Menschen oft kommunikationsresistent sind.

Die Neuzugänge zum Alemannentum werden aber auch nicht überall mit freudigem Jubelgeschrei empfangen. Aber das Alemannentum – das ist ja selbst ein neuer Mythos, der vor allem deswegen konstruiert wurde, um sich von den Wienern abzugrenzen. Das habe ich auch erst lernen müssen.

Zuzug

Vorarlberg hat einen Ausländeranteil von derzeit etwa 14 Prozent, das ist der zweithöchste nach Wien. Größte Gruppe sind deutsche Bürger, dann Türken und Bosnier. Es finden sich auch „Exoten“ wie aktuell aus Malta (5), Namibia (3), Tonga (2) und Fidschi (1).

Der Binnenzuzug aus Österreich war freilich schon seit den 1920ern, und noch mehr ab 1945, stark. Auffallend oft zog es Steirer und Kärntner hierher, angelockt durch Großbauprojekte wie Stauseen und Straßen sowie durch die
Textilindustrie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2014)

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