Ein Killer von Escobars Gnaden

COLOMBIA DRUG LORD RELEASED FROM PRISON
COLOMBIA DRUG LORD RELEASED FROM PRISONAPA/EPA/MAURICIO DUENAS CASTANED
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Er war die rechte Hand des kolumbianischen Drogenbarons Pablo Escobar: Nun wurde sein früherer Auftragskiller Jhon Jairo Velásquez Vásquez aus dem Gefängnis entlassen.

Nun ist also der Mann, der zugab, 300 Morde begangen zu haben, der eingestand, für mindestens 3000 gewaltsame Tode verantwortlich zu sein, der ein Heer von 800 Auftragsmördern kommandierte, der Politiker und Journalisten entführte, der Minister, Gouverneure und einen aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten umbrachte, der einen vollbesetzten Linienjet in der Luft explodieren ließ und der sogar die eigene Freundin erschoss, weil sein Chef das anordnete, nun ist also Jhon Jairo Velásquez Vásquez frei. Aber kann einer wie er jemals frei werden?

Die fast 22 Jahre, die Pablo Escobars ehemaliger Leibwächter hinter Gittern verbrachte, endeten mit einem Versteckspiel. Die TV-Teams und Radioreporter, die stundenlang vor den Toren des Hochsicherheitsgefängnisses Cómbita im kolumbianischen Departement Boyacá ausgeharrt hatten, durften anderntags den Medien entnehmen, dass ihre Zielperson von den Justizbehörden durch die Hintertür einer nebenan liegenden zweiten Haftanstalt gebracht worden war. In einem schwarzen Auto mit dunklen Scheiben, das noch dazu ohne Abblendlicht die 150 Kilometer in Richtung Bogotá aufnahm. Im noblen Norden der Hauptstadt sei der Massenmörder seinen neuen Wächtern übergeben worden. Doch die muss er nun selbst bezahlen. Denn die Freiheit ist ein verdammt kostspieliger Zustand für einen, dem hunderte nach dem Leben trachten.

„Mit einer 80-prozentigen Wahrscheinlichkeit werden sie mich umbringen“, sagte er, lakonisch, in einem der letzten Interviews, die er im Gefängnis gab. Tatsächlich dürfte dieser schmächtige 52-Jährige mit dem inzwischen ergrauten Bürstenschnitt zu den meistbefragten Massenmördern des Planeten gehört haben, denn Journalisten waren dem letzten Überlebenden des inneren Machtzirkels des Medellín-Kartells stets willkommene Konversationspartner, die er mit vielen aberwitzigen Details über die irrwitzigen 1980er-Jahre versorgte, in denen er und seine Spießgesellen ihr Land außer Kontrolle brachten. Ansonsten hatte der Mann, den das ganze Land als „Popeye“ kennt, relativ wenig Umgang. Nachdem er mehrere Mordversuche überlebt hatte, wurde er vor zwölf Jahren isoliert, tatsächlich hatte Velásquez einen ganzen Gefängnistrakt für sich allein.

Vom Chauffeur zur rechten Hand. Zu Popeyes Feinden gehören nicht nur die Hinterbliebenen seiner Opfer von damals, sondern auch viele ehemalige Verbündete und Zuarbeiter des Medellín-Kartells, die der Insider schwer belastet hat – Polizisten, Militärs, Richter, aber auch Persönlichkeiten aus der traditionellen Oberschicht, deren Banken, Versicherungen und andere Konzerne zunächst hocherfreut waren über die Kapitalflüsse, die der Parvenü Escobar mit seinen Kokainexporten ins Land holte. „Am Anfang waren wir die Könige“, erinnerte sich Pablo Escobars Sohn in einem Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Doch als der Kopf des Medellín-Kartells auch noch eine Polit-Karriere begann, senkten sich viele Daumen. Als der Staat versuchte, ihn zu verhaften, begann Escobar sein Land mit Terror zu überziehen – und einer seiner effizientesten Handlanger war Jhon Jairo Velásquez Vásquez alias Popeye.

Dessen Spitzname ist eine Spätfolge seines Wehrdienstes in Kolumbiens Marine. Doch weil ihm der nicht wirklich gefiel, ging er zurück in seine Heimatprovinz Antioquia. In deren Hauptstadt Medellín fand er Arbeit als Chauffeur einer jungen Dame, die, wie sich herausstellte, zu den vielen Gespielinnen des Gangsterbosses gehörte. Dem „Patron“, der gelegentlich aufkreuzte, fiel der schmächtige und unscheinbare Fahrer auf, weil er stets pünktlich war und rund um die Uhr zu erreichen. „Irgendwann sprach mich Escobar an und fragte: ,Kannst du schießen?‘ Ich bejahte. ,Kannst du Leute erschießen?‘ Nachdem ich wieder bejahte, hatte ich meinen ersten Job. Tatsächlich war mein erster Gesetzesverstoß überhaupt ein Mord“, sagte Popeye in einem seiner Interviews. Weil der junge Mann niemals, aber wirklich niemals die Autorität des Bosses in Frage stellte, stieg er stetig auf in der Hierarchie des Bösen.

Präsidenten im Visier. Erst waren seine Opfer Polizisten, Informanten, Gangster anderer Banden. Aber je weiter das Kartell zur Terrorgruppe mutierte, desto komplexer wurden die Aufträge. Er koordinierte die Entführungen des späteren Präsidenten Andrés Pastrana und des Verlegersohns Francisco Santos, Kolumbiens späterem Vizepräsidenten. Nachdem er, wie mehrere Killer des Kartells von Terroristen der baskischen ETA, im Umgang mit Sprengstoffen geschult worden war, ließ Popeye mehr als 250 Bomben hochgehen, unter anderem jene, die 1990 einen mit 104 Passagieren und drei Besatzungsmitgliedern besetzten Linienjet in der Luft zerriss. 1991 war er am Mordanschlag auf den liberalen Präsidentschaftskandidaten Luis Carlos Galán beteiligt, dafür bekam er nach seiner Verhaftung 1992 die Höchststrafe von 30 Jahren, die er nun zu mehr als zwei Dritteln abgesessen hat. Darum, und auch wegen seiner umfangreichen Aussagen vor Gericht, gestanden ihm die Behörden nun die Entlassung zu.

Ein Spruch, den nicht alle Kolumbianer akzeptieren wollen. „Dieser Mann hätte niemals das Gefängnis verlassen dürfen“, sagte die 25-jährige Andrea China, die gerade zehn Monate alt war, als eine von Popeyes Bomben das Spielzeuggeschäft zerfetzte, in dem ihre Mutter arbeitete. Anders argumentiert Rafael Espinosa, dessen Tante sterben musste, weil sie – als Richterin – den ersten Haftbefehl gegen Escobar ausgestellt hatte: „Er hat die Strafe, die das Gesetz vorsieht, abgesessen.“ In dem Land, das gerade über eine mögliche Amnestie für die FARC-Guerilleros verhandelt, sind 22 Jahre verbüßte Haft eher die Ausnahme. Immerhin hatte Popeye das Glück, nicht an die USA ausgeliefert zu werden, wie viele anderen Narcos nach ihm.

Gelingt Identitäswechsel?
52 Monate lang ist Popeye noch auf Bewährung frei. Er darf das Land nicht verlassen. Vielleicht gelingt es ihm, die staatlichen Stellen von einem Identitätswechsel zu überzeugen. Vom Magazin „Semana“ befragt, was er mit seinem restlichen Leben anstellen möchte, antwortet er: „Ich würde gerne meine Erfahrungen in der Konfliktbewältigung einbringen. Niemand hat so viel erlebt wie ich. Ich war Killer von Escobar und Zellengefährte von Escobars Todfeinden. Ich war Freund oder Feind aller wichtigen Toten sämtlicher Konflikte Kolumbiens in den letzten Jahrzehnten. All diese Kenntnisse müssten sich doch für etwas Kreatives einsetzen lassen.“ Wird er seine 20-Prozent-Chance nutzen?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2014)

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