Mary Poppins und Co: Kinderbetreuung im Wandel

Mary Poppins
Mary Poppins(c) Premiere
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»Mary Poppins«, das Musical, das demnächst im Ronacher Premiere hat, erinnert an das immergrüne Thema Gouvernanten, schlichter: Kinderbetreuung im Wandel der Zeit. Die Hand an der Wiege regiert die Welt - oder ist es doch nur ein Job für arme Mädchen? Eine Annäherung.

Meteorologen verbinden Ostwind mit gutem Wetter. Auch Mary Poppins weht der Ostwind herbei, am Kirschbaumweg 17 in London hat sich Bizarres ereignet: Die Hausfrau eines Bankers namens Banks engagiert sich nicht bei Wohltätigkeitsveranstaltungen wie es ihrem Stand entspricht, sondern sie besuchte ein Suffragettentreffen. Unterdessen verlor das Kindermädchen den Nachwuchs im Park, ein Bobby bringt die Kids zurück. Die Kinderfrau muss gehen, die Hausfrau wird gerügt – vom Hausherrn, der auch von Mary Poppins nicht begeistert ist.

Die geheimnisvolle Dame mit den magischen Fähigkeiten bringt den Kindern unaussprechliche Wörter wie Superkalifragelistischexpialigetisch bei, sie zaubert bittere Medizin süß, bringt Jane und Michael zu einem Onkel, der, immer wenn er lacht, an die Zimmerdecke saust, und zum Lebenskünstler Bert. Robert Stevensons Film ist auch eine Satire: Über die maximale Gier beim Geschäftemachen im aufblühenden Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, über die mitunter skurrilen, weltfremden Anfänge der Frauenbewegung, den Drill der Jugend, die ihre Pennys in die Bank tragen soll, wo sie mit den Ersparnissen der kleinen Leute beim nächsten Börsenkrach sang-und klanglos in der Versenkung verschwinden.

„Mary Poppins“, der Film von 1964, basierend auf einem Buch der Australierin P. L. Travers von 1934, wurde mit fünf Oscars geehrt, darunter einem für die Hauptdarstellerin, Julie Andrews. Die Britin begründete mit „Mary Poppins“ ihre Weltkarriere. Subkutan erinnert sie ältere Zuseher noch immer an die legendäre Mary, wenn sie als fürstliche „Gouvernante“ und Großmutter von „Plötzlich Prinzessin“ Ann Hathaway erscheint.


Es war ganz anders. Die wahre Geschichte der Mary Poppins erzählt der bittersüße Film „Saving Mr. Banks“ mit Emma Thompson als Buchautorin Travers und Tom Hanks als Walt Disney (2013): Madame Travers hat ihre eigene Bio großräumig zum Märchen umgeschrieben, Mister Disney will der Story nun mit dem Mary-Poppins-Film einen weiteren Schubs in Richtung Kommerz geben. Doch als die schrullige Schriftstellerin nach Hollywood kommt, wird sie dort mit schrecklichen Erinnerungen an ihren unglücklichen Vater konfrontiert, ihren Helden, der in Wahrheit ein Alkoholiker war und an Tuberkulose starb. Travers' Mutter wollte ins Wasser gehen, doch ihre Schwester, eine strenge, aber auch gütige Frau versorgte die verzweifelte Familie. Amerika findet Travers, die gezwungen ist, die Rechte an „Mary Poppins“ zu verkaufen, weil sie, mittlerweile in London lebend, sich ihr Haus nicht mehr leisten kann, verabscheuungswürdig, speziell die Verfälschung ihres Buches zu einem technisch raffiniert mit Comics gemischten Blockbuster, der damals noch nicht so hieß.


Hexe und Heilerin. Hollywood folgt den Gesetzen der Serie nicht immer auf klar ersichtlichen Pfaden. Emma Thompson hat auch eine Nachfolgerin der berühmten Mary Poppins gespielt: nämlich „Die zauberhafte Nanny“ 2005, die 2010 eine Fortsetzung fand. Dieser Film spielt deutlich mit der Mary-Nostalgie und ist gleichzeitig ein Fantasy-Film. Ein Leichenpräparator bleibt nach dem Tod seiner Gattin mit sieben Kindern zurück, man schreibt das Jahr 1870. Da klopft eine mysteriöse Frau an die Tür: Mit Zauberkräften macht Nanny McPhee aus Rangen brave Kids, dabei wird die potthässliche Heilsbringerin immer hübscher, der Witwer heiratet sie trotzdem nicht. Nanny McPhee will das auch nicht, sie ist die Hexe, die magische, die heilige Frau also, aber eben auch eine praktische und emanzipierte, die sich von der Not eines Mannes nicht täuschen lässt. Eine interessante Mischung mit einem modischen Schuss Esoterik.


Macht und Ohnmacht der Erzieher. Die Kinderfrau oder das Kindermädchen, da gibt es große Unterschiede. Das Kindermädchen ist wie anderes weibliches Dienstpersonal öfter Objekt sexueller Begierde des Hausherren, der, wenn die Gattin mit Schwangerschaften und Geburten beschäftigt ist, „frustriert“ ist. Manchmal weiht das Kindermädchen auch die jungen Herren der Familie in die Geheimnisse der Liebe ein. Das Kindermädchen soll Warmherzigkeit spenden. Die Kinderfrau hingegen ist eine schon ältere Persönlichkeit, die im besten Fall wie Nanny McPhee die Kinder zur Eigenverantwortung erzieht. Wie auch immer, die Hand an der Wiege regiert die Welt. So heißt auch ein schriller Thriller aus dem Jahr 1992, der wenig auf die zentrale Frage des Einflusses der Erzieher auf die Sprösslinge eingeht.

Heute sollen Nannys und Gouvernanten die oft berufstätigen Mütter entlasten. Im angelsächsischen Raum waren Kinderbetreuerinnen, meist sind es Frauen, heute manchmal auch Männer, lange üblicher als bei uns. Davon kündet eine Anekdote. Ein junger Mann klagt seine adelige Mutter an: „Du hast mich immer abgeschoben.“ Sie erwidert: „Sei froh, wer weiß, ob wir noch miteinander sprechen würden, wenn du immer auf mir geklebt wärst.“ Eine große Diskussion gab es zuletzt 2003 in den USA über den Erfahrungsbericht einer Nanny in New York, die von der Gleichgültigkeit und seelischen Grausamkeit einer Mutter gegen ihr Kind erzählt: Die Upperclass-Lady (im Film gespielt von Scarlett Johansson) ist damit beschäftigt, ihren Mann, der sich eine Jüngere aufgerissen hat, zurückzuerobern. Als sie merkt, dass ihr Sohn die Nanny gern hat, wirft sie diese hinaus.

In der Literatur gibt es viele Nanny-und Gouvernanten-Geschichten. Eine der skurrilsten ist Miss Prism in „Bunbury“ von Oscar Wilde: Eine zerstreute Hobbyschriftstellerin, die das ihr anvertraute Baby in einer Tasche auf dem Bahnhof vergisst. Mit Taschenspielertricks unterhält die Gouvernante Charlotta in Tschechows „Kirschgarten“ die Gesellschaft. Der reiche, verwitwete Geheimrat Clausen verliebt sich in Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang“ in die Kindergärtnerin Inken Peters, die beiden wollen ein neues Leben anfangen, doch Clausens Kinder entfachen eine Palastrevolution gegen den Alten. Das schönste Buch über eine Bonne hat Arthur Schnitzler geschrieben: „Therese, Chronik eines Frauenlebens“ (1928) schildert die Geschichte einer Erzieherin aus deren Perspektive, psychologisch eindringlich, milieusicher, politisch genau.

GESCHICHTE

Anfänge. Familien des Hochadels vertrauten die Erziehung ihrer Kinder Gouvernanten und Hofmeistern an. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jh.s wurde dies in Großbritannien auch in bürgerlichen Familien üblich.

Wer? 200 Jahre lang war für Frauen der gebildeten Mittelschicht die Arbeit als Gouvernante eine der wenigen Möglichkeiten, einen standesgemäßen Beruf auszuüben, vor allem für Ledige. Die Laufbahn endete jedoch oft im Elend.

Brontë & Co. Die Schwestern Brontë, Anne und Charlotte, Schriftstellerinnen, hassten ihren Gouvernantenjob. Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, die aus altem böhmischen Adel stammte, war Gouvernante, sie heiratete ihren Arbeitgeber, der daraufhin von seiner Familie enterbt wurde.

Einfluss. Françoise d'Aubigné, Marquise de Maintenon, wurde 1669 Gouvernante der Kinder der Madame de Montespan, Mätresse Ludwigs XIV. 1684, ein Jahr nach dem Tod der französischen Königin, ging Ludwig XIV. mit der „Maintenon“ eine heimliche Ehe ein. 1686 gründete sie in Saint-Cyr ein Internat für mittellose adelige Töchter, das bis 1793 bestand.

Bücher. Jane Austens „Emma“, „The Turn of the Screw“ von Henry James, bekannt auch als Oper von Benjamin Britten, ferner verfilmt 1959 mit Ingrid Bergman und 1961 als „Schloss des Schreckens“ mit Deborah Kerr.

Vanity Fair.Verfilmung eines Romans von William Thackeray „Jahrmarkt der Eitelkeit“ (1847/48). Reese Witherspoon und Bob Hoskins spielten in dem Streifen (2004).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2014)

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