Inguschetien: Die nordkaukasische Chaos-Republik

(c) AP (Aleksey Nikolskyi)
  • Drucken

Der mysteriöse Tod eines Internet-Betreibers in einem Polizei-Fahrzeug ist kein Ausnahmefall. Die kleine Republik steht permanent am Rande eines Bürgerkriegs.

WIEN/NASRAN. Islam Belokiew verkaufte gerade Autoersatzteile auf einem Markt in Nasran, der Metropole der Nordkaukasus-Republik Inguschetien. Plötzlich wurde aus einem parkenden Polizeiauto sein Name gerufen. Belokiew ging auf das Fahrzeug zu – bis die darin sitzenden Polizisten das Feuer auf ihn eröffneten. Getroffen fiel er zu Boden – verwundet zwar, aber noch am Leben.

Menschen eilten herbei, die dem Verwundeten helfen wollten. Doch die Polizisten, die inzwischen ausgestiegen waren, ließen niemanden zu ihm. Während Belokiew verblutete, drückten ihm die Polizisten noch eine Pistole in die Hand und legten eine Handgranate neben ihn. So wollten die „Sicherheitsorgane“ gleich die Beweise mitliefern, dass es sich bei dem 20-jährigen Belokiew um ein „Mitglied einer illegalen bewaffneten Bande“ gehandelt habe.

Morde am helllichten Tag

Morde am helllichten Tag und auf offener Straße, ausgeführt von Polizisten und Geheimdienstlern, sind in Inguschetien keine Ausnahme. Niemand nimmt es den dortigen Behörden deshalb ab, wenn sie behaupten, der Tod des Internet-Betreibers Magomed Jewlojew am Sonntag sei ein Unglücksfall gewesen; bei einem Handgemenge mit Jewlojew in einem Polizeiauto habe sich halt ein Schuss gelöst. Ein glatter Kopfdurchschuss soll also Zufall gewesen sein? „Sehr beunruhigend“, kommentierte das US-Außenamt.

Inguschetien ist inzwischen neben Tschetschenien und Dagestan (auch dort erlag am Mittwoch der Journalist Abdulla Alishajew den schweren Verletzungen, die man ihm bei einem nächtlichen Überfall zugefügt hatte) das gefährlichste Pflaster in der zu Russland gehörenden Nordkaukasus-Region. Die kleine Republik mit 480.000 Einwohnern, mehrheitlich Muslime, steht am Rande eines offenen Bürgerkriegs.

Islamistische Aufständische und Sicherheitsorgane liefern sich einen permanenten Kleinkrieg: heimtückisch, rücksichtslos, blutig. Allein zwischen 2002 und 2007 wurden in Inguschetien über 700 Menschen ermordet; 158 Personen sind spurlos verschwunden. Folterungen stehen an der Tagesordnung.

Das Sagen hat ein KGB-General

Diesen Sommer haben die Aufständischen ihre Angriffe auf russische Soldaten und Polizisten noch verstärkt. Die Staatsmacht schlägt brutal zurück, verhaftet vor allem junge Männer, die sie verdächtigt, sie könnten mit den Aufständischen sympathisieren.

Aus ganz Russland werden Polizisten nach Inguschetien zur Verstärkung der dortigen Sicherheitsorgane geschickt. Im Juli bat der Gouverneur von Kurgan (einer Region im Ural) den russischen Innenminister Rashid Nurgaliew dringend, er möge ein Polizeikontingent aus seinem Bezirk vorzeitig nach Hause lassen, damit die Männer psychologisch betreut werden könnten. Bei Angriffen der Aufständischen waren Ende Juni/ Anfang Juli drei Polizisten aus Kurgan getötet und acht verwundet worden.

Herrscher über diese nordkaukasische Chaosrepublik ist Murat Sjasikow, ein früherer KGB-General und guter „Kumpel“ des jetzigen russischen Regierungschefs Wladimir Putin. Sjasikow ist bei den Einwohnern Inguschetiens wegen des Wütens seiner Sicherheitsorgane und seines korrupten Regimes zutiefst verhasst. Anfang Juli unterschrieben über 100.000 Inguschen einen Appell an den russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew, in dem die Entlassung Sjasikows und die Rückkehr des früheren Republikchefs, des Afghanistan-Veteranen Ruslan Auschew, gefordert wird.

Inguschetien hat nicht nur ein gewaltiges Sicherheitsproblem. Mit 67 Prozent hat es auch die höchste Arbeitslosigkeit in der ganzen Russischen Föderation. 2005 kam Moskau für 88 Prozent des Republikhaushaltes auf.

Alles, was der Moskauer Zentrale zur Lösung der inguschetischen Krise bisher einfiel, war, noch mehr Polizisten und Geheimdienstler zu schicken und das Budget-Füllhorn noch weiter zu öffnen. Der Effekt war freilich nur, dass sich die Bevölkerung noch mehr von Moskau entfremdete.

Schon gibt es in der Opposition Stimmen, die eine Abspaltung der Republik von Russland fordern. Die jüngsten Ereignisse jenseits des Kaukasus geben ihnen zusätzlich Argumente. Denn hat Moskau mit der Anerkennung für Südossetien und Abchasien nicht gerade erst demonstriert, dass für Russland das Selbstbestimmungsrecht der Völker mehr wiegt als territoriale Integrität?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.