Kammer-Zwang, nimmer lang?

Hans-Peter Haselsteiner bittet Brüssel um Hilfe gegen die Pflichtmitgliedschaft im Verfassungsrang. Gut so.

Wer behauptet, die Große Koalition hätte in eineinhalb Jahren „Arbeit“ nichts weitergebracht, hat Unrecht. Zwar sind sämtliche Versuche, den wuchernden Verwaltungsstaat den einen oder anderen Zentimeter zurückzudrängen, ebenso kläglich gescheitert wie die Sicherung des Gesundheits- und Pensionssystems. Ein ganz großer Wurf ist den beiden Großparteien aber doch gelungen – und das noch dazu ohne medienwirksame Schlammschlacht: Im Dezember 2007 setzten SPÖ und ÖVP ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament dazu ein, alle Kammern dieses Landes in den Verfassungsrang zu heben.


Womit die Kammern vor allem jenen eine lange Nase zeigten, die seit Jahren über Zwangsmitgliedschaft und hohe Beiträge wettern. Einer davon ist der Bauindustrielle Hans-Peter Haselsteiner, der die verfassungsrechtliche Absicherung der Kammern zum Anlass nahm, das System der Pflichtmitgliedschaft zu Fall zu bringen. Haselsteiner ruft Brüssel zu Hilfe.


Sehr zum Unverständnis der Wirtschaftskammer. Die Vertreter der großen Kammern wiederholten schon im Dezember des Vorjahres wie tibetische Gebetsmühlen, dass sich mit dem Verfassungsrang ja ohnehin nichts ändere. Die Kammern haben bei „ihren“ beiden Großparteien also deshalb den höchsten Schutz begehrt, den ein Rechtsstaat zu bieten hat, weil sich damit ohnehin nichts ändert. Wir verstehen. Mit den zwangsweise eingehobenen Kammer-Beiträgen wird also nicht nur ein dichtes Netz an Außenhandelsstellen in aller Welt unterhalten, sondern auch ein sozialpartnerschaftliches Propaganda-Ministerium, das die Bevölkerung für vertrottelt hält.

Die Verankerung der Kammern in der Bundesverfassung hat nämlich sehr wohl weitreichende Konsequenzen. Vor allem einmal jene, dass sich die Kammern damit de facto pragmatisiert haben – samt Zwangsbeiträgen. Seit Dezember 2007 kann keine demokratisch legitimierte Regierung die Pflichtmitgliedschaft bei den Kammern mehr in Frage stellen. Es sei denn mit einer Zweidrittelmehrheit. Dass SPÖ oder ÖVP einem derartigen Vorhaben jemals zustimmen werden, ist ungefähr so wahrscheinlich wie ein Staatsstreich durch Heinz Fischer.

Jede Regierung kann zwar künftig die Kammern zwingen, die von ihren Mitgliedern eingehobenen Zwangsbeiträge abzusenken. Dazu reicht weiterhin die einfache Mehrheit im Nationalrat. Allerdings können die Kammern in Zukunft sofort die Höchstgerichte um Hilfe anrufen. Etwa mit der Begründung, dass sie mit niedrigeren Beiträgen ihre finanzielle Unabhängigkeit nicht mehr zu sichern im Stande wären. Wozu sie allerdings laut Verfassungsgesetz verpflichtet sind.
Aus Sicht der Kammern ist es verständlich, sich vom Staat eine De-facto-Pragmatisierung einräumen zu lassen. Auch wenn sie dafür die eigene Glaubwürdigkeit opfern. Während die Wirtschaftskammer im Namen ihrer auf den Weltmärkten ums Überleben kämpfenden Mitglieder gerne über die heilende Kraft des Wettbewerbs philosophiert, lässt sie die eigene Organisation vom Staat zur geschützten Werkstätte erklären. Während der voll im Wettbewerb stehende ÖGB mit den Arbeitgebern die Kollektivverträge ausverhandelt, lässt sich die Arbeiterkammer die Pflichtmitgliedschaft von der Verfassung absichern.

Das eigentliche Übel an der ganzen Sache besteht vor allem darin, dass sie nahezu ohne Diskussion durchgezogen wurde. sDie Schar der bei jeder Lappalie hysterisch warnenden Moralapostel scheint vom sozialstaatlichen Wohlfahrtssystem bereits derart korrumpiert zu sein, dass sie nicht einmal ein leises Wort des Protestes gegen diese offensichtliche Vergewaltigung der Verfassung finden wollte. Dazu passt, dass die Mehrzahl heimischer Medien es vorgezogen hat, die Sache totzuschweigen. Allen voran der mit Zwangsgebühren gespeiste ORF.


Warum wird den Bürgern dieses Landes, das mittlerweile ja wohl eine gefestigte Demokratie sein dürfte, noch immer das Recht abgesprochen, sich ihre Interessenvertretungen selbst auszusuchen? Was spricht dafür, im Jahr 2007 den Ständestaat in der Verfassung zu verankern? Verwehrt der Staat den Menschen in diesem Land das Recht auf Vertragsfreiheit deshalb, weil sie zu blöd sind, für sich das Richtige zu tun? Oder vielleicht deshalb, weil die mit Zwangsbeiträgen finanzierten Organisationen mittlerweile derart aufgebläht sind, dass jede Änderung des Status quo mit deren finanziellem Kollaps einhergehen würde? Raten Sie mal.

Unabhängig davon, ob Haselsteiner den Kammer-Zwang in Brüssel zu Fall bringen kann – einen längst überfälligen Beitrag zur politischen Hygiene hat er allemal geleistet.


franz.schellhorn@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2008)

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