"Musik und Gehirn": Der Rhythmus der Epilepsie

(c) Universität Heidelberg
  • Drucken

Der Schwerpunkt von „Wien modern“ wurde mit einer „Live-Sonifikation“ eröffnet – und mit der Frage: Was macht uns musikalisch?

Gruselig sieht es immer aus, wenn ein Mensch die Elektrodenhaube trägt, die für ein Elektroenzephalogramm (EEG) nötig ist. Diesfalls war es Alvin Lucier, der als Komponist schon vor 45 Jahren das EEG als Klangquelle versucht hat: Da saß er still, im Neuen Saal des Konzerthauses, die Elektroden am Kopf, und spendete seine Hirnwellen.

Forscher der Unis in Manchester und Bielefeld nahmen sie auf und verwandelten ihre Frequenzen nach ausgeklügelten Algorithmen in bald tröpfelnde, bald pritschelnde, bald prasselnde Tonkaskaden. „Live-Sonifikation“ nannten sie das, und das klingt aufregender, als es im Konzerthaus klang. Auch dass ein Augenzwinkern Luciers die Form der Wellen änderte, war nicht allzu überraschend. Sechs Elektroden sind eben deutlich zu wenig, um Verständliches über die Aktivität eines lebenden Hirns zu erzählen.

Auch bei der Vorführung bereits aufgezeichneter Sonifikationen tat sich der ungeübte Hörer schwer, Muster zu erkennen – bei den EEGs, die ebenfalls vorgeführten Herzfrequenzen taten ihre Wirkung, kein Wunder: Der Herzschlag ist auch ein akustisches Phänomen, man muss ihn nicht aufwendig in eines umwandeln. Wenn der Herzschlag auf der Tonspur stolpert, versackt, greift uns das selbst ans Herz. Ähnlich schaurig wirkt ungewöhnlich langes, über ungewöhnliche Intervalle gezogenes Heulen: So erschauderte man bei einer Sonifikation, in der das EEG eines epileptischen Anfalls in „vokale“ Klänge übersetzt wurde.

Doch ohne diesen Effekt, nur auf die übliche Art in Stakkato-Töne transformiert, hörte man auch der unheimlichen Störung des Hirns das Besondere (einen vergleichsweise ausgeprägten Rhythmus: Der Anfall klingt eher nach jäher Ordnung als nach Einbruch des Chaos!) nur an, wenn man es hören wollte. Und das wollte man: Man suchte Muster. Wie immer, wenn man Musik hört.

Affen hassen Musik, Menschen lieben sie

Die Belohnung, die sich einstellt, wenn man Muster findet, ist einer der wesentlichen Reize des Musikhörens. Sie findet im Nucleus accumbens, dem „Lustzentrum“ des Hirns, statt. Wie alle Freude, die Musik bringt. Man kann sie dort messen. Und damit etwa 40 Prozent der Leute, die angeben, dass sie Mozart lieben, bescheinigen, dass man das ihrem Hirn aber nicht ansieht...

Das war eine der vielen Pointen im Vortrag des Hirnforschers Lutz Jäncke (Uni Zürich). Er begann mit einer klaren Abgrenzung: Affen hassen Musik, Menschen lieben Musik. Schon kleine Kinder. Sie ziehen das Schnellere dem Langsamen, das Lautere dem Leisen, das Bekannte dem Unbekannten vor. Musikalität (für die man noch immer keine Gene kennt) ist ein extremes Beispiel für die Plastizität des menschlichen Gehirns, sie ist damit in einem überraschenden Ausmaß Übungssache. Die Qualität der Absolventen einer Musikhochschule ist vor allem abhängig von der Anzahl der Übungsstunden. Selbst die Güte eines absoluten Gehörs korreliert mit der Trainingszeit. Wie das Training wirkt, sieht Jäncke im Hirn, in vielen Regionen. Etwa in den Arealen, die für die Motorik der Hände zuständig sind. Bei Pianisten wächst z.B. das linke (für die rechte Hand zuständige) dieser Areale stärker als bei Geigern, deren rechte Hand „nur“ streichen muss. Die Prägung des Hirns geht so weit, dass selbst ertaubte Pianisten dieselbe Aktivität im auditiven Kortex haben, die sie hätten, wenn sie hörten.

Musik, erklärte Jäncke, ist auch mit der Sprache viel näher verbunden, als es das (falsche) Klischee „Sprache in der rechten Hirnhälfte, Musik in der linken“ will. Erfahrung mit Musik hilft so nicht nur dem räumlichen Sinn, dem Gedächtnis usw., sondern auch beim Erkennen der Emotionalität eines Sprechers. Besonders faszinierend: Der Fasciculus arcuatus, eine Verbindung zwischen Sprachzentren, wird durch Musik dicker. Er gilt als typisch menschliche Hirnstruktur.

„MUSIK UND GEHIRN“

Bis 5.November läuft der Schwerpunkt bei „Wien modern“. Am Montag (19 Uhr, Konzerthaus) spricht Neurowissenschaftler Stefan Koelsch über „Musik, Sprache & Gehirn“, dann präsentiert Peter Ablinger u.a. seine „Quadraturen III“. Am Dienstag geht es um Plastizität des Hirns, am Mittwoch spricht Vittorio Gallese über die Spiegelneuronen. Info: www.wienmodern.at.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.