Menschenrechte – in der Krise ein Luxus?

Jede Politik muss sich auf dem Fundament und im Rahmen der Menschenrechte bewegen – das gilt auch und insbesondere in Krisenzeiten.

Der runde Geburtstag der Menschenrechtsdeklaration wird von einer der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte überschattet. Welche Auswirkungen wird diese Krise auf die Menschenrechte haben? Steuern wir auf eine „Menschenrechtsrezession“ zu?

Zwar ist es noch zu früh, um die genauen Auswirkungen auf die Gesellschaft und insbesondere auch auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen vorherzusagen, doch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat bereits davor gewarnt, dass die Finanzkrise weltweit 20 Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit treiben könnte. MigrantInnen, Menschen mit Behinderung, Ältere und Frauen sind häufig diejenigen, die zuerst ihre Arbeit verlieren. Es besteht die Gefahr, dass viele dieser Arbeitslosen in den illegalen Arbeitsmarkt gedrängt werden könnten, wo selbst in Europa zum Teil sklavereiähnliche Bedingungen herrschen. Gleichzeitig birgt wirtschaftliche Stagnation oder Rezession auch immer das Risiko von Budgetkürzungen, etwa im Bildungs- oder im Gesundheitsbereich sowie bei Sozialleistungen. Dies wiederum trifft diejenigen am härtesten, die diese Unterstützung am dringendsten benötigen. Und die Geschichte lehrt uns eine weitere bittere Lektion: In Krisenzeiten müssen häufig Minderheiten als Sündenböcke herhalten, seien es nun Juden, Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, MigrantInnen, Flüchtlinge oder Asylwerber.

Kostspielige Rechte

In Europa mussten wir bereits einmal schmerzhaft erfahren, wie eine globale Wirtschaftskrise zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung ganzer Bevölkerungsgruppen geführt hat. Unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise der 30er-Jahre und unter dem Schock des 2. Weltkrieges und des Holocaust entstand 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Neben den bekannten politischen und bürgerlichen Rechten umfasst diese auch zentrale wirtschaftliche und soziale Rechte: das Recht auf Bildung, Arbeit und befriedigende und gerechte Arbeitsbedingungen, den Schutz vor Arbeitslosigkeit, das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit sowie das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, ärztliche Versorgung und notwendige Sozialleistungen.

Obwohl diese sozialen und wirtschaftlichen Rechte längst zu den international anerkannten Menschenrechtsstandards gehören, zögern viele Regierungen nach wie vor, sie vollständig umzusetzen – teils aus ideologischen Motiven, hauptsächlich jedoch, weil sich der Staat diese angeblich nicht leisten könne. Die Leidtragenden sind benachteiligte Gruppen, die nur eine schwache Lobby haben – Kinder mit Behinderungen, denen die Integration in das allgemeine Bildungswesen verwehrt wird, Asylwerber ohne Zugang zum Arbeitsmarkt oder psychisch kranke Menschen, die unter teilweise menschenunwürdigen Pflegebedingungen leiden.

Natürlich kosten Menschenrechte Geld. Insbesondere einige der wirtschaftlichen und sozialen Rechte sind kostspielig, so etwa das Recht auf Bildung oder auf Gesundheitsfürsorge. Aber was ist die Kehrseite der Medaille? Was sind die Kosten der Nichtumsetzung? Wie wir heute in vielen Teilen der Welt, auch in Europa, sehen können, führen soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung zu gesellschaftlicher und politischer Entfremdung, Diskriminierung und Extremismus bis hin zur Entstehung von Konflikten – und daraus können weitaus höhere Folgekosten entstehen.

Regierungen haben die Pflicht, für das Wohl aller Menschen in ihrem Land Sorge zu tragen. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung hat auf einzigartige Weise und mit universeller Gültigkeit formuliert, was dies konkret bedeutet. Sie ist nicht nur ein moralisches Bekenntnis, sondern unsere Staaten haben sich auch rechtlich zur Einhaltung der Menschenrechte für alle verpflichtet. Jede Politik muss sich auf dem Fundament und im Rahmen der Menschenrechte bewegen – und das gilt auch und insbesondere in Krisenzeiten, sei es nun im „Kampf gegen den Terror“ oder in der derzeitigen Finanzkrise.

Oft wird behauptet, die Menschenrechte seien ein Luxus, den man sich nur in guten Zeiten leisten könne. Tatsächlich zeigt die Geschichte, dass ein verbesserter Schutz der Menschenrechte mit Wohlstand und Wachstum einhergeht. Aber ist Wohlstand die Voraussetzung dafür, dass man sich einen umfassenden Menschenrechtsschutz „leisten“ kann – oder sind es nicht vielmehr die Einhaltung von Menschenrechtsnormen und der stabile Rechtsstaat, die eine gute und nachhaltige Grundlage für Wachstum schaffen? Letzteres ist der Fall: Ein wirksamer Rechtsrahmen, der gewährleistet, dass die Menschen ihr Potenzial entfalten können – ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihres Alters –, bildet das beste Fundament für Wirtschaftswachstum und damit für Wohlstand und soziale Gerechtigkeit.

Würde des Einzelnen bewahren

Krisenzeiten haben in der Geschichte oft als Motor für den Wandel fungiert. Es wäre zu wünschen, dass die Staaten bei der Entwicklung von Programmen zu einem umfassenden Menschenrechtsschutz dieselbe Entschlossenheit an den Tag legen, mit der sie solidarisch die Finanzkrise zu bewältigen suchen. In diesem Sinne ist zu hoffen, dass die gegenwärtige Krise den nächsten Schub bei den Menschenrechten anstößt, und zwar indem wir endlich all die Normen, die wir vor 60 Jahren vereinbart haben, in die Praxis umsetzen und allen Menschen die wirtschaftlichen und sozialen Rechte in der gleichen Weise garantieren, wie wir dies bereits mit den politischen und bürgerlichen Rechten tun. Letztlich geht es bei den Menschenrechten um die Würde jedes Einzelnen. Diese Würde gilt es zu wahren – und das gilt ganz besonders für Krisenzeiten.

Dr. Morten Kjaerum ist seit Juni 2008 Direktor der EU-Agentur für Grundrechte. Zuvor war er Direktor des Dänischen Instituts für Menschenrechte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Weltjournal

Echte Rechte für das „Ebenbild Gottes“

Eine ganz kurze Geschichte der Vorgeschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Weltjournal

Leben in der „Menschenrechts-Stadt“

Graz kümmert sich, wie 24 andere Städte weltweit, besonders um Menschenrechte.
Außenpolitik

„Eine rechte Agenda der Fremdenpolitik“

Liga für Menschenrechte kritisiert Koalitionspakt.
Symbolbild
Weltjournal

Menschenrechtsaktivist in China verhaftet

Der Autor und Bürgerrechtler Liu Xiaobo ist festgenommen worden. Er hatte zum 60. Jubiläum der Menschenrechts-Erklärung eine "Charta 2008" unterzeichnet.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.