Wie soll die EU aussehen, wenn sie fertig ist?

25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer wüssten viele Bürger gern, welche Gestalt Europa am Ende seines Einigungsprozesses haben soll. Doch es fehlt an visionären Politikern wie Helmut Kohl.

Es ist bis heute unglaublich, was am Abend des 9. November 1989 geschehen ist. Auf einmal, wenige Stunden nach einem von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski beiläufig verkündeten neuen Reisegesetz, öffnete sich die Todesmauer in Berlin – und zehntausende DDR-Bürger spazierten einfach rüber in den Westen. Sie nahmen sich die Freiheit, keiner hielt sie auf. Polen, Ungarn und die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung hatten davor schon mit freundlicher Genehmigung von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow Breschen ins bankrotte rote Imperium geschlagen. Doch mit dem Fall der Mauer hatte die Wende ihr sinnmächtiges Bild: Der Kommunismus in Europa war zusammengebrochen, der Kalte Krieg beendet.

Es inspiriert, sich mit allem dazugehörenden Pathos an das Wunderjahr 1989 zurückzuerinnern: an die Kraft des Freiheitswillens, an den Mut, an die Endlichkeit unterdrückerischer ineffizienter Regimes. Und beeindruckend bleibt, mit welchem Gespür für den historischen Moment Helmut Kohl die Gelegenheit beim Schopf gepackt und Deutschland innerhalb weniger Monate wiedervereinigt hat. Widerstände gab es zuhauf: in Großbritannien, in Frankreich, auch im rot-grünen Lager. Doch am Ende hatte der oft verspottete Kanzler die Deutschen, die Großmächte und die Geschichte auf seiner Seite. Gorbatschow spielte mit, weil die sieche Sowjetunion Milliardenspritzen bekam. Und die Franzosen konnte Kohl an Bord holen, weil er als Europäer überzeugte. Er hatte eine Vision für den Kontinent und nutzte den Umbruch, um sie voranzutreiben: Der Maastricht-Vertrag, der Euro und die Erweiterung der EU folgten.

Und heute, 25 Jahre später? Europa stagniert, ist im Klein-Klein gefangen, während sich die Welt rundum rasant verändert. Es fehlen umsetzungsstarke Visionäre vom Schlag eines Kohl. Seine Nachfolgerin Angela Merkel ragt zweifellos unter den Status-quo-Verwaltern des Kontinents hervor. Doch leider heißt das nicht viel. Auch sie scheint keinen Plan für die EU zu haben, zumindest redet die ungekrönte Königin im Einschläfern öffentlicher Diskurse nicht darüber.

Europas tiefe Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise hätte die Möglichkeit geboten, die EU vom Ende her zu denken, wie Merkel das angeblich so gut kann, und entsprechend zu gestalten. Wie soll die EU aussehen, wenn sie fertig ist? Viele Wähler würden zwischendurch gern erfahren, was das „Mehr an Europa“, das da gebetsmühlenartig gefordert wird, im Endeffekt bedeuten soll.


Zwitter EU. Diverse Rettungsschirme und ein Fiskalpakt, der beim ersten Härtetest schon wieder aufgeschnürt wird, ersetzen noch keine Strategie. Soll Europa ein Zwitterwesen bleiben, ein unvollendeter Zusammenschluss von Nationalstaaten? Oder muss sich der Kontinent zu Vereinigten Staaten von Europa zusammenschließen, um im globalen Wettbewerb gegen China, die USA, Indien und andere aufstrebende Mächte zu bestehen? Wie soll Europa seine Sozialstaaten zukunftssicher machen, wie den Euro erhalten, wie Konvergenz zwischen Nord und Süd herstellen? Und wie kann die EU zu einem außenpolitischen Akteur aufsteigen, den Russland und andere ernst nehmen? Kann sie eine ordnende Funktion in Nahost übernehmen, wo sich ein "neuer Dreißigjähriger Krieg" (c Francois Heisbourg) mit allen negativen Rückwirkungen aufs nahe Europa anbahnt? Und ist die EU in der Lage, neue Märkte in Afrika zu etablieren? Um all diese Fragen zu beantworten, muss Europa zuerst wissen, was es aus sich machen will.

Joschka Fischer, Deutschlands ehemaliger Außenminister, hat in einem neuen Buch vorgeschlagen, einen europäischen Bundesstaat nach dem Vorbild der Schweiz zu schaffen. Eine Idee, die nicht jeder begrüßen wird, aber man kann sie wenigstens diskutieren. Bezeichnend jedenfalls ist, dass ein Ex-Politiker sie einbringt.

25 Jahre nach dem Mauerfall braucht Europa eine neue Orientierung – und mutige Staatsmänner, die imstande sind, die Richtung vorzugeben. Auch in Österreich.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2014)

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