Meir Shalev: „Wir haben Affären, aber morden nicht“

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Israelischer Romancier in Wien: Er könnte sich vorstellen, Blutrache zu nehmen, sagt Meir Shalev im Gespräch über seinen hinreißenden Racheroman „Zwei Bärinnen“ – und über die „sehr gefährliche Politik“ der israelischen Regierung.

Die Presse: „Zwei Bärinnen“ erzählt von Leidenschaft und Rache über drei Generationen in einem israelischen Dorf. Sie sind in einem solchen aufgewachsen. Kamen Ihre Großeltern als Pioniere dorthin?

Meir Shalev: Ja, meine Großmutter kam aus der Ukraine, mein Großvater aus Sankt Petersburg. Sie lernten sich hier kennen. Sie war mit einem anderen Mann verheiratet, mein Großvater wurde ihr Liebhaber, sie wurde von ihm schwanger . . .


Wie in Ihrem Roman . . .

Aber bei uns endete es nicht so tragisch, der andere Mann ging einfach weg. Und das uneheliche Kind war mein Vater.


Er wurde ein bekannter Schriftsteller.

Ja, junge Männer in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in Israel haben die Mädchen mit seinen Gedichten umworben. Dann habe ich noch eine bekannte Schriftstellerin als Kusine, Zeruja Shalev – in Israel nennt man uns die schreibende Familie.


Haben Sie als Kind viele Familiengeschichten erzählt bekommen? Ihre Romane haben so einen vertraulichen, lebendigen Lagerfeuercharakter . . .

Jeden Abend saß die Familie gemeinsam am Tisch, und dann erzählte man! Vor allem die Familie meiner Mutter, und diese mündlichen Geschichten waren oft faszinierender als die geschriebenen von der Vaterseite. Sie hatten etwas Magisches, Surreales, wie durch die Luft fliegende Esel. Es war so faszinierend zuzuhören, nicht nur der Inhalt, sondern, dass sich da eine Familie durch Geschichten eine Identität schafft. Auch das jüdische Volk hatte sein Fundament immer im Weitererzählen von Geschichten.


Biblische Geschichten spielen eine große Rolle in Ihren Büchern, sind Sie religiös?

Nein, tut mir leid.


In Wien müssen Sie sich dafür nicht entschuldigen. Waren Ihre Eltern es?

Noch weniger! Sie gehörten zu den jungen Leuten, die aus ultraorthodoxen Familien kamen, abfielen und Sozialisten, Kommunisten, Zionisten wurden. Mein Großvater ging in Israel kein einziges Mal in die Synagoge und war sehr stolz auf diese persönliche Revolution. Aber ich hatte das Gefühl, dass er zwar die jüdischen Gesetze nicht mehr beachtete, aber immer noch ein religiöser Mensch war, weil er so fanatisch seine neue Ideologie verfolgte. Einmal habe ich ihm gesagt, du bist nicht säkular geworden, du bist nur konvertiert, vom Judaismus zum Sozialismus und Zionismus.


Viele Männer in Ihren Romanen sind große Machos. Sie schildern sie kritisch, aber auch mit Sympathie . . .

Weil ich selbst beides in mir habe. Ich überlege mir auch, was ich in den Situationen, in die ich meine Figuren bringe, selbst tun würde. Den Liebhaber meiner Frau würde ich nicht ermorden, ist nicht mein Stil. Die Blutrache von Rutas Mann, Etan, am verbrecherischen Alten würde ich zumindest als Möglichkeit andenken. Ich würde es vielleicht nicht tun, weil ich Angst hätte, vor der Polizei, den Richtern, . . . Etan wird aber durch die Blutrache in gewisser Weise geheilt. Diese Geschichte war auch der Ausgangspunkt des Romans. Dass der Großvater den Liebhaber seiner Frau ermordet, kam später, es beruht auf einer wahren Geschichte.


Nicht in Ihrer Familie, hoffe ich.

Nein, wir haben außereheliche Beziehungen, aber wir ermorden niemanden.


Auch zwei Kinder sterben in Ihrem Roman, eines ganz archaisch, durch einen Schlangenbiss . . .

Schlangenbisse passieren in Israel jeden Sommer! Sehen Sie, auf meinem Handy habe ich ein Bild von mir mit einer großen Viper, die habe ich in meinem Garten gefangen. Schon meine Onkel haben Schlangen getötet. Zugleich ist die Schlange natürlich in der Mythologie der traditionelle Killer.


Über Sie liest man, dass Sie 1967 durch einen israelischen Soldaten verwundet wurden und sich seitdem für die Räumung der besetzten Gebiete engagieren.

Das hat mit meiner Verletzung gar nichts zu tun. Ich bin aus Pragmatismus für die Räumung der besetzten Gebiete – weil es nicht anders möglich ist. Ich stelle die Existenz Israels nicht infrage, aber die israelische Politik ist kurzsichtig und sehr gefährlich. Es gibt nur eine Lösung: die Zwei-Staaten-Lösung und der Rückzug auf die Grenzen von 1967. Aber die Lösung wird immer schwieriger, je länger wir sie aufschieben. Israel muss verstehen, dass es so nicht weitermachen kann.


Über Politik schreiben Sie in der Zeitung, warum nicht in Ihren Romanen?

Weil das meine künstlerische Freiheit ist. Ich will in meinen Romanen zuallererst Geschichten erzählen. Auch vieles sonst in meinem Leben hat nichts mit Politik zu tun! Manchmal habe ich bei Büchern das Gefühl, der Autor will mit Politik für Literatur werben oder mit Literatur für Politik. Dieser Mix macht mich misstrauisch.

Shalev auf der Buch Wien

Am Freitag um 11.30 Uhr ist Meir Shalev auf der Buch Wien zu erleben, in einem Gespräch auf der ORF-Bühne (in englischer Sprache).

„Zwei Bärinnen“ ist bei Diogenes erschienen und spielt in einem israelischen Dorf. 1930 haben drei Bauern angeblich Selbstmord begangen – einer davon aber wurde ermordet. 70 Jahre später erzählt die Lehrerin Ruta, was damals wirklich passiert ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2014)

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