US-Soziologin: „Die Mitte verschwindet“

 Saskia Sassen
Saskia Sassen (c) Michaela Bruckberger
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Wie verändert Wachstum eine Stadt? Die US-Soziologin Saskia Sassen kritisiert den Ausverkauf der Innenstadt und erklärt, was riesige Hunde mit Lebensqualität zu tun haben.

Was ist das Erste, was Ihnen auffällt, wenn Sie in eine Stadt kommen?

Saskia Sassen: Der Sound. Das Erste, was ich bei meiner Ankunft in New York höre, ist das Geschrei der Taxifahrer auf dem Flughafen. In London wäre das unvorstellbar.

Was war denn Ihr erster Audio-Eindruck von Wien?

Wenn ich nach Europa eingeladen werde, kombiniere ich meist mehrere Städte – zum Beispiel Wien und Zürich. Insofern kann ich die beiden gut vergleichen. Zürich ist ein Finanzzentrum und Headquarter von mehreren globalen Firmen, aber Zürich maskiert sich. Wenn man dort ist, glaubt man, man ist in einer netten kleinen Stadt. Wien ist im weltweiten Business weniger wichtig, aber es wirkt wie eine imperiale Hauptstadt. Was den Klang betrifft, sind sich europäische Städte ähnlich: Die Lautstärke ist vernünftig. Der Lärm attackiert einen nicht.

Wien wächst im Europa-Vergleich sehr rasch. Fügt sich das in den globalen Trend, dass große Städte immer größer werden?

Ja. Auch London wächst und wächst, während andere, einst wichtige Städte, wie Liverpool, mit Abwanderung zu kämpfen haben. Die sind deshalb gerade dabei, sich neu zu erfinden: Liverpool, wo viele Häuser leer stehen, will ein neues Zentrum für Kunst werden – was eine tolle Idee ist.

Was sind denn die auffälligsten Folgen des Wachstums für eine Stadt?

Was an London auffällt: Das Zentrum der Stadt gehört inzwischen de facto ausländischen Investoren, die etwa 70 Prozent der Innenstadt besitzen. Meist kaufen sie jeweils gleich mehrere Immobilien, sind aber selten da. Die alten Londoner klagen deshalb bereits, dass auf den Straßen im Zentrum immer weniger los ist.

Sie nennen das De-Urbanisierung.

In globalen Städten – und Wien ist eine solche – entsteht eine globale Plattform. Das sind Menschen, die in vielen Städten der Welt leben und ähnliche Erwartungen und ein ähnliches Preisniveau mitbringen. Das verändert eine Stadt. Denn diese Menschen brauchen eine bestimmte Infrastruktur, Dienstleistungen, schöne Shops und Lokale. Keine stillen, gemütlichen Lokale, sondern Laufstege. Man will repräsentieren. Das kann für die jungen Leute in der Stadt, die dort mitfeiern, sehr aufregend sein, und das alles kreiert sicher eine kosmopolitische Atmosphäre, die an die Zeit erinnert, als Wien tatsächlich eine imperiale Hauptstadt war.

Das klingt doch nicht so schlecht.

Nein, aber es ändert auch den Charakter einer Stadt, ihre DNA. Diese Urbanität ist nur eine ironische.

Worin liegt die Ironie?

Wir müssen uns fragen: Wem gehört diese Stadt? Wenn ihre Bewohner das Gefühl bekommen, dass das nicht mehr ihre Stadt ist, kommt es zu einer Entfremdung. Und die hat Folgen. Denn solange ich eine Stadt als die meine begreife, liebe ich sie und achte auf sie. Dann bin ich ein Bürger, der die Stadt mitgestaltet. Das betrifft vor allem die Mittelklasse. Denn die Mitte tendiert dazu, ihr Einkommen und ihre Energie in der Stadt zu reinvestieren. Das sorgt für ein organisches Wachstum. Wenn die Mitte geht, dann ist die Stadt weniger urban. Es entsteht ein Loch.

Im Vergleich zu London sind die Mieten und Immobilienpreise in Wien, wo es auch viel sozialen Wohnbau gibt, niedrig. Trotzdem sind die Wohnkosten auch hier sehr kräftig gestiegen. Für die Mittelklasse ist es nicht mehr einfach, in guter Lage zu wohnen. Was macht das mit der Stadt?

Das passiert überall. In London, in Oxford. Leute, die in Oxford arbeiten, können dort nicht mehr leben. Ich rede von Anwälten, Professoren. Die Mitte verschwindet. Und das ist schlimm, denn nach so vielen Städten, die ich studiert habe, weiß ich: Es wird zwar immer Arme und Reiche in der Stadt geben, aber eine breite Mittelklasse ist wichtig. Ohne sie fehlen die vielen kleinen Dinge, die eine Stadt fröhlicher machen: kleine Theater, Ateliers, die Leute, die Bio-Läden aufmachen. Ist diese Atmosphäre aber erst einmal weg, ist es schwer, sie wiederzubeleben. Schauen Sie sich die 20-Millionen-Einwohner-Städte in China an: dicht verbaut, viele Menschen und trotzdem ist es keine Stadt.

Was wäre Ihr Gegenrezept?

Manche Städte wie Palo Alto im Silicon Valley zahlen jenen Menschen, die für die Stadt wichtig sind, Zuschüsse. Dort hatte man das Problem, dass Polizisten, Krankenschwestern, Feuerwehrleute und Lehrer wegzogen, weil es für sie zu teuer wurde. Eine andere Möglichkeit wäre eine Steuer für Superreiche. Für die Infrastruktur, die sie brauchen, soll die Mittelklasse nicht zahlen. Eine Stadt kann sich aber auch den Egoismus Einzelner zunutze machen.

Inwiefern?

Derzeit passiert das eher zufällig. Mein Lieblingsbeispiel ist der Riverside-Park in New York City. Der war früher sehr gefährlich, dann brachte die Wall Street junge Fachleute in die Stadt, die sich dort am Fluss ansiedeln wollten. Als sie merkten, wie gefährlich es war, kauften sie sich riesige, Furcht einflößende Hunde. Die Hunde disziplinierten diese egoistischen jungen Menschen. Sie mussten in der Früh und am Abend mit dem Hund spazieren gehen und patroullierten quasi auf den Straßen. Der Effekt: Die Kriminellen verschwanden, die Familien kamen. Aus vielen egoistischen Handlungen ist also ein öffentliches Gut entstanden. Ähnlich ist es bei Migranten. Sie wohnen oft in heruntergekommenen Gegenden, aber kümmern sich aus Egoismus um ihr Viertel, eröffnen kleine Shops etc. Das heißt, sie produzieren Cityness, Urbanität, und das ist das Gewebe, das eine Stadt zusammenhält.

In Wien entstehen derzeit neue Stadtteile wie die Seestadt Aspern. Wie bekommt man Cityness dorthin? Institutionen wie Museen wollen in der „alten“ Stadt bleiben.

Prinzipiell ist die Anziehungskraft der „alten“ Stadt etwas Positives. Nur so haben Städte Jahrtausende überlebt. Was neue Stadtteile betrifft: Das dauert. Nur weil ein Ort alle Funktionen hat, ist er noch nicht attraktiv.

Und wie macht man ihn attraktiv?

Man könnte Kreative ansiedeln: Keine organisierten Kulturvereine – das ist immer eine Katastrophe –, sondern den Underground. Ich würde sie fragen, was sie brauchen. Wollen sie die U-Bahn bemalen? Wollen sie günstige Ateliers? Meist reicht genügend Platz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2014)

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