Palästinensische Attentäter richten Blutbad in einer Synagoge in Jerusalem an. Der politische Konflikt zwischen Israel und Palästinensern gleitet immer mehr in eine religiös gefärbte Konfrontation ab.
Jerusalem. Der Sanitäter Avi Nafussi wird den Anblick in der Synagoge Har Nof nie vergessen. Er wohnt direkt neben dem jüdischen Gebetshaus, in dem gestern Früh sechs Menschen gestorben sind. Nafussi war schon zur Stelle, bevor die Polizei die beiden palästinensischen Angreifer niederstreckte. „Ich blieb hinter meinem Auto in Deckung, bis mich die Sicherheitskräfte zur Bergung der Verletzten riefen“, berichtete er am Telefon.
Armeesprecher Peter Lerner twitterte später Bilder vom Ort des Attentats. Eines davon zeigt ein blutverschmiertes Beil. Es muss ein regelrechtes Gemetzel gewesen sein, das sich in den frühen Morgenstunden unter den ultraorthodoxen Betenden abgespielt hat. Vier Menschen wurden getötet. „Das ist die Antwort auf den Lynchmord an einem palästinensischen Busfahrer“, lautete der Retweet eines Palästinensers an den israelischen Polizeisprecher. Am späten Sonntagabend war der Fahrer kurz vor Beginn seiner Schicht erhängt in seinem Fahrzeug aufgefunden worden. Eine Autopsie, an der auch ein palästinensischer Arzt beteiligt war, ergab, dass der Busfahrer Selbstmord begangen hatte. Das Gerücht von einem Mord durch jüdische Extremisten war auf der palästinensischen Straße dennoch nicht aufzuhalten.
Attacke mit Messern und Äxten
Die beiden palästinensischen Terroristen, die die Synagoge mit Messern, Äxten und Schusswaffen angriffen, hatten eine klare Botschaft. Ihr Ziel war keine auf die Stadtbahn wartende Menschengruppe, kein Straßencafé oder Bus, sondern eine Synagoge in einem ultraorthodoxen Jerusalemer Wohnviertel. Hier sollte Angst unter gläubigen Juden verbreitet werden. Das Motiv war nicht nur religiös. Zur Tat bekannten sich zunächst die Ali-Abu-Mustafa-Brigaden. Diese stehen der eher säkularen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) nahe. Der politische Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nimmt dennoch religiöse Formen an.
Die gescheiterten Friedensverhandlungen und der Gazakrieg im Sommer, mit dem von Israel fortgesetzten Siedlungsbau, dem sozialen Gefälle in Jerusalem, wo Araber ärmer als Juden sind, haben die Lage angeheizt. Dazu kommt der Kampf um den Tempelberg. Der Ort, an dem Abraham seinen Sohn Isaak zu opfern bereit war und an dem der Prophet Mohammed gen Himmel aufgestiegen ist, wie es die heiligen Bücher lehren, färbt den politischen Konflikt religiös.
„Neue gefährliche Dimension“
„Die Überlagerung der ungelösten politischen Fragen mit religiöser Konfrontation gibt einem ohnehin ernsten Konflikt eine neue gefährliche Dimension“, sagte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Steinmeier war am Sonntag in Jerusalem und unmittelbar vorher in Amman, um sich persönlich für eine Entspannung in der Region starkzumachen. In Jordanien, dem Nachbarland Israels und des Westjordanlandes, wird man angesichts der Kämpfe in den heiligen Stätten nervös. Am Wohlergehen der Palästinenser war man dort in den vergangenen Jahrzehnten nicht sehr interessiert, dafür aber umso mehr am Tempelberg.
Israels will hart zurückschlagen. Premier Benjamin Netanjahu beeilte sich, die Hamas und den palästinensischen Präsidenten, Mahmoud Abbas, dessen „Hetze die internationale Gemeinschaft unverantwortlicherweise ignoriert“, für den Gewaltakt in der Synagoge mitschuldig zu erklären. Er kündigte die rasche Zerstörung der Häuser von Attentätern an. Polizeiminister Yitzhak Aharonovich will erlauben, dass Israelis zur Selbstverteidigung Waffen tragen.
Abbas verurteilte das Attentat und „die Morde an Unschuldigen“. Die Hamas pries indes den Terrorakt, der nicht überraschend käme, so Ghazi Hamas, Sprecher der Islamisten im Gazastreifen. „Jerusalem kocht“.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2014)