Fremde als Verlustbringer?

Hans-Werner Sinn
Hans-Werner Sinn(c) FABRY Clemens
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Ökonom Sinn sieht Migration in ihrer heutigen Form als schlechtes Geschäft für den Staat – und löst so eine heftige Debatte aus.

Wien. Hans-Werner Sinn lässt wieder von sich hören – und wie immer so lautstark, dass niemand ihn überhören kann. Kurz bevor Kanzlerin Merkel in ihrer Neujahrsansprache vor grassierender Fremdenfeindlichkeit warnte, setzte der Chef des Münchner Ifo-Instituts einen grimmigen Kontrapunkt: Die Einwanderung nach Deutschland sei ein „großes Verlustgeschäft“ für die staatlichen Kassen, rechnete der Showstar der deutschen Ökonomen in einem Gastbeitrag für die FAZ vor. Jeder Migrant koste pro Jahr 1450 Euro mehr, als er bringt – ein Kalkül, das quer zum bisherigen Konsens seiner Zunft steht. „Spiegel Online“ versuchte, Fehler in Sinns Argumentation aufzudecken, und empfahl ihn polemisch als „neuen Chefökonomen“ für die rechtspopulistische AfD. Wogegen sich nun Sinn wieder wortreich zur Wehr setzt – und schon kocht die Debatte hoch.

Worum geht es in dem Streit? Nicht um Nutzen und Notwendigkeit von Migration, beteuert Sinn: Weil in Deutschland viel zu wenige Kinder geboren werden, führe „an fortgesetzter Massenimmigration kein Weg vorbei“. Und für die ansässige Bevölkerung sei sie auch ein Einkommensgewinn, weil der Zuzug ihnen in Summe mehr Arbeit verschaffe als wegnehme. Anders sehe es für den Staat aus, der von den Migranten Steuern und Sozialbeiträge kassiert und für sie Leistungen erbringt. Das sei ein schlechtes Geschäft. Was bisherige Studien anders suggerieren, auch jene aktuelle des ZEW im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, auf die sich Sinn bezieht. Sie stellt nämlich in den Vordergrund, dass jeder Migrant dem Staat 2012 um 3300 Euro mehr einbrachte, als er kostete. Eine weit frohere Botschaft also, die von vielen Medien verkündet wurde. Wer hat nun recht?

Die ZEW-Studie zieht von den Steuern und Abgaben, die Migranten einzahlen, nur jene Leistungen ab, die einzelnen direkt zurechenbar sind. Das sind monetäre Transfers wie Arbeitslosen- oder Kindergeld, ergänzt um Kosten für Kindergarten und Schule. Allgemeine Kosten aber, etwa für Autobahnen, Straßenkehrer oder Zinsen, bleiben außen vor. Sinn zieht aber auch sie ab und kommt so zu seinem negativen Betrag.

Immer mehr Hochqualifizierte

Die Streitfrage ist also die: Handelt es sich hier um variable Kosten, die steigen, wenn die Zahl der Einwohner steigt? Oder um fixe Kosten, die unabhängig davon anfallen, ob nun 80 oder 82 Millionen Menschen in Deutschland leben? Nur die Ausgaben für Militär hält Sinn für wirklich fix und berücksichtigt sie deshalb nicht. Alle anderen Kosten seien aber zumindest auf längere Sicht variabel. Schrumpft die Bevölkerung, werden etwa Beamtenposten nicht nachbesetzt.

Wäre dem nicht so, dann wären kleine Länder klar benachteiligt: Sie müssten immer höhere Staats- und Schuldenquoten haben als die größeren. Das ist aber nicht der Fall. Auch die ZEW-Studie erwähnt, dass bei einer solchen „Vollkosten“-Betrachtung der durchschnittliche deutsche Migrant dem Staat mehr kostet, als er bringt. Autor Holger Bonin nennt aber keinen Jahreswert, weil er die nicht eindeutig zurechenbaren Kosten für weniger relevant hält.

„Jeder Einwohner ist in dieser Rechnung eine Belastung“, erklärt Bonin in der „Welt“, weil nämlich der Gesamtstaat 2012 ein Defizit erwirtschaftete. Nur war der Verlust pro deutschem Einwohner niedriger als pro Ausländer, weil Migranten im Mittel weniger verdienen und mehr Transfers erhalten als Durchschnittsbürger. Hier liegt Sinns Botschaft an die Politik: Sie solle nicht weniger, sondern besser ausgebildete Ausländer ins Land holen – was auch Bonin unterschreiben würde.

Allerdings dürfte Sinn mit seiner Sorge, dass der deutsche Sozialstaat „Kostgänger“ in Scharen anziehe, übertreiben. Denn dass Migranten schlechter qualifiziert sind und damit dem Staat tendenziell stärker auf der Tasche liegen, stimmt nur für den Bestand, also die früher Zugewanderten. Darauf weist das IW Köln in seiner Replik hin: Der Anteil der Hochqualifizierten unter den Neuzuwanderern ist seit 2000 deutlich gestiegen, von 16 auf 31 Prozent. Damit ist hier der Akademikeranteil schon weit höher als im deutschen Schnitt mit etwa 20 Prozent. Die Kritik Sinns an einer verfehlten Einwanderungspolitik lässt sich also nur für die Vergangenheit mit Zahlen belegen. Wer heute nach Deutschland einwandert, dürfte den Staatskassen im Schnitt günstiger kommen als ein in Deutschland Geborener. Womit Sinns Argument die Spitze genommen wäre.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2015)

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