Jede Gesellschaft hat ihre Monster

Warum reden die Menschen vom „Monster“ F.? Sind Psychopathen für ihre Taten verantwortlich oder einfach biologisch auf Untaten programmiert – und wie geht man dann mit ihnen um? Rechtsphilosoph Peter Strasser, der über „Verbrechermenschen“ geforscht und geschrieben hat: Ohne die Idee des freien Willens stirbt die menschliche Gesellschaft.

Dass man Josef. F. gleichzeitig zu lebenslang verurteilt und in eine Anstalt für abnorme Rechtsbrecher einweist – ist das nicht auch ein Zeichen der Ratlosigkeit: „Eigentlich wissen wir nicht, was das war“?

Peter Strasser: Das Grundproblem bei Fällen wie dem F. ist: Einerseits erklärt das Strafrecht ihn für zurechnungsfähig – man mutet einer Persönlichkeit wie der von F. also zu, dass sie auch hätte anders handeln können. Auf der anderen Seite sagen die psychologischen Gutachten, dass dieser Mensch eine schwer abnorme Persönlichkeitsstruktur aufweist. Das ist das Problem der Psychopathie: Man sieht auf der einen Seite die inneren Zwänge, die dazu führen, dass diese Menschen gewisse Triebimpulse nicht beherrschen können; aber man hat auf der anderen Seite das Bedürfnis zu sagen: Solche Leute sind für das, was sie getan haben, auch zur Verantwortung zu ziehen. Darin steckt nicht bloß eine Spannung, sondern ein Widerspruch.

Wir sind also in der in letzter Zeit verschärften Willensfreiheitsdebatte.

Die Mehrheit der neurophysiologisch tätigen Forscher ist heute der Ansicht, dass es so etwas wie eine Willensfreiheit im strengen Sinne nicht gibt und die Menschen in dem, was sie tun, durch das, was sich im Gehirn abspielt, weitgehend determiniert sind. Das Problem ist, dass dieselben Wissenschaftler dann, wenn sie gefragt werden: „Und wie sollen wir mit unseren Rechtsbrechern umgehen?“, begrifflich herumzudrucksen beginnen.


Spitzfindige Rechtsphilosophen sagen dann, es mag schon sein, dass der freie Wille nicht existiert, aber selbst dann müssten wir bei unserer Strafjustiz bleiben: zum Schutz der Bevölkerung.

Dann entstünde eine Gesellschaft, die zwar wüsste, dass niemand anders handeln kann, als er eben handelt, die aber gleichzeitig denen, die von der Norm abweichen, eine Strafe auferlegt, als ob sie doch frei gehandelt hätten. Das führt langfristig zu Zynismus und nicht zu einer Verfestigung der sozialen Moral. Man muss, wenn man dieses Problem lösen will, zugestehen, dass wir ohne die Willensfreiheit nicht auskommen. Das ist ein metaphysischer Grundsatz unseres Lebens, der eigentlich ein Rätsel ist, weil wir ja andererseits nicht leugnen können, was die Gehirnforscher feststellen: Dass im Gehirn neurologische Konstellationen vorliegen, die unsere Entscheidungen schon im Voraus weitgehend festlegen.

Zugleich scheint es ein tiefes Bedürfnis zu geben, in solchen „Verbrechermenschen“ auch eine Art metaphysische Manifestation des Bösen zu erblicken.

Das Word „metaphysisch“, das ich vorhin verwendet habe, würde ich am liebsten gleich wieder zurücknehmen. Ich würde lieber sagen, das Freiheitserleben ist eine Grundtatsache unseres menschlichen Alltags, und dass wir ohne Freiheitserleben einander gar nicht mehr als verantwortliche Personen begegnen könnten. Diese Grundtatsache muss in Gesellschaften, die sich überhaupt noch als menschlich begreifen wollen, das letzte Wort haben. Das heißt, was immer uns die Gehirnwissenschaften sagen, diese ganz alltägliche Tatsache, dass wir frei handeln können, wird vorausgesetzt, im Übrigen auch von den Gehirnforschern, die ihre Experimente machen.

Das hieße, dass das Böse ein Produkt in Anspruch genommener Freiheit ist.

Das Böse ist ja zunächst nichts anderes als das nicht getane Gute. Wenn die Abweichung vom Guten sehr stark wird, dann beginnen wir nach tieferen Ursachen zu fragen. Unser Bedürfnis, Tiefenursachen ausfindig zu machen, wird umso dringlicher, je monströser die Taten sind. Wir können uns nicht vorstellen, dass ein normaler Mensch so etwas Schreckliches tut.


Drückt sich hier eine gewisse Form von Humanitätsbedürfnis aus?

Einerseits wollen wir den, der etwas schrecklich Böses tut, noch immer im Bereich des Menschlichen behalten, indem wir sagen, der ist natürlich auch ein Mensch, aber ein schrecklich befleckter. Damit sagen wir irgendwie, ob wir das medizinisch ausdrücken oder nicht: Er ist krank; er war durch seine innere Veranlagung nicht in der Lage, ein entsprechendes Gewissen auszubilden, seine Affekte zu kontrollieren. Das ist durchaus der Versuch einer Humanisierung des Monströsen.


Machen wir da gerade einen Rückschritt durch? Am Anfang der Kriminologie gab es auch den naturalistischen Blick auf den Verbrecher: Der ist von seiner Natur aus so. Dann kam die Theorie, die Gesellschaft macht ihn so. Heute geht man wieder zurück zur biologischen Prägung.

Genau so ist es. In der heutigen biologischen Forschung geht man davon aus, dass Psychopathie angeboren ist, und dass sie im Wesentlichen darin besteht, dass sich bei Psychopathen sehr schwer ein Gewissen herausbilden kann, das stark genug ist, um die asozialen Triebe, an denen ja jeder Mensch teilhat, zu kontrollieren. Das ist bei Männern und Frauen unterschiedlich und drückt sich bei Männern besonders deutlich und drastisch aus, weil das häufig in die Sexualität hineinspielt. Die Theorie ist also, dass das Ganze auf einem genetischen Fundament aufsitzt.

Der Unterschied zwischen Mensch und Monster ist also gerne biologisch ausgedrückt?

Bei besonders schrecklichen Taten neigen wir dazu, die Person zu entmenschlichen, indem wir so tun, als ob in ihr gewissermaßen teuflische Kräfte am Werke wären. Das hat damit zu tun, dass solche Taten nicht leicht aus einzelnen Ursachen heraus erklärbar sind. Man hat das Gefühl, der ganze Mensch ist betroffen. Die Monstrosität hat den ganzen Menschen erfasst, und dadurch ist aus dem Menschen etwas anderes geworden – ein Monster. Man hat früher angenommen, im „geborenen Verbrecher“ kämen alte animalische Eigenschaften in der Zivilisation plötzlich wieder zum Vorschein.


Man ist also wieder beim Grundzugang der kriminologischen Frühzeit angelangt? Nur dass nicht mehr eine Hinterhauptausbuchtung, sondern die Gehirnchemie den „Verbrechermenschen“ kennzeichnet.

Die Frage ist, ob man das kritisieren soll. Der Umstand, dass sich in einem wissenschaftlichen Fach etwas weiterentwickelt, sollte nicht unbedingt als Rückschlag angerechnet werden. Man kann aber sagen, dass sich in dieser neuen biologischen Forschung viele kriminologische Hardliner finden, vor allem in Amerika. Hier findet ein Rückschritt kriminalpolitischer Art statt, der aber nicht in der Wissenschaft selbst begründet liegt.

Was man in den letzten Jahrzehnten hier gefeiert hat, die Humanisierung des Strafrechts und des Strafvollzugs, wird dann dort eher als Träumerei denunziert?

Genau. Es gibt eine Internetzeitschrift, „Crime Times“, die auf penible Weise alle biologischen Forschungen zu Kriminalitätsursachen dokumentiert. Das ist der sichtbarste Ausweis dieser neuen Bewegung, die Folgendes sagt: Jahrzehntelang sind hunderte Millionen Dollar ausgegeben worden für Resozialisierungsprogramme, therapeutische Programme und Programme spezialpräventiver Art, und all diese Programme seien weitestgehend gescheitert. Das hätte damit zu tun, dass insbesondere die schweren Verbrechen eben nicht sozialbedingt seien, sondern biologisch bedingt. Das ist ein extrem gefährlicher Ansatz, wenn er wie hier mit einer ganz harten Linie der Bestrafung – Todesstrafe eingeschlossen – von Psychopathen liebäugelt, also von Leuten, die angeblich an Störungen biologischer Art laborieren.


Deuten monströse Täter Ihrer Ansicht nach auf eine monströse Gesellschaft hin?

Man muss in großen komplexen Gesellschaften, die dem Einzelnen sehr viel soziale Feinsteuerung abverlangen, damit rechnen, dass ab und zu etwas Monströses passiert. Das ist nicht abnormal, es ist eher das, was angesichts der menschlichen Natur erwartbar ist. Jede Gesellschaft hat, wenn man so will, ihre Monster, und die normale Gesellschaft hat sie auch.


Den Philosophen nach seiner kürzesten Antwort gefragt, was eigentlich das Böse ist?

Jedenfalls nichts Handgreifliches, keine Substanz. Das Böse findet sich überall dort, wo Menschen frei handeln. Du kannst böse nur sein, wenn du in der Lage bist, aus deiner Freiheit heraus auch das Gute zu tun. Aber es ist ein Zeichen der Humanität unserer Gesellschaft, wenn sie sagt, wir weisen den F. in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher ein, weil wir damit zu erkennen geben, dass es sich hier nicht bloß um etwas Böses handelt, sondern auch um einen Defekt, und dass der, der an diesem Defekt leidet, über sich selbst keine volle Kontrolle hatte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2009)

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