Die große Heimkehr der Migranten

Gastarbeiter
Gastarbeiter(c) EPA (Matthias Hiekel)
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Die Rezession setzt eine neue Völkerwanderung in Gang. Von Indien bis Polen kehren hunderttausende Migranten in ihre Heimat zurück, weil sie im Ausland keine Arbeit mehr finden.

Für den Heimflug hat sich Emir Licina seine weißen Lederslipper angezogen. Das geduckte Leben als Illegaler ist für den Schuster aus Serbien vorbei. Er kehrt zurück. Dabei hatte der 24-jährige Moslem so große Pläne, als er vor drei Monaten zu Fuß über die Grenze nach Ungarn ging und dann mit dem Bus von Budapest nach Wien fuhr.
Geld verdienen wollte er, mehr als die monatlichen 200 Euro in der südserbischen Region Sandschak. Doch der junge Mann mit dem gutmütigen Blick fand keine Arbeit, auf keiner Baustelle und in keinem Café, nirgendwo. Seine Freunde, bei denen er in der Gablenzgasse wohnte, mussten ihn über Wasser halten. Das wollte Emir Licina bald nicht mehr.

Tribut der Rezession

Deshalb meldete er sich, wie zuvor schon seine Schwester, beim Verein Menschenrechte, um Hilfe für seine freiwillige Rückkehr zu beantragen. Und deshalb steht er jetzt in der Abflughalle in Wien-Schwechat. Gleich wird er sein Flugticket nach Belgrad bekommen und die 370 Euro Startkapital für den Wiederbeginn in seiner Heimatstadt Novi Pazar.
„Das ist deutlich billiger als Schubhaft und Abschiebung“, sagt Günter Ecker, Geschäftsführer des Vereins Menschenrechte. Für ihn ist es ein Routinefall. 180 Rückkehrer, vor allem abgelehnte Asylanten, hat sein Team allein im März betreut, es werden immer mehr. Ecker erwartet einen noch stärkeren Andrang. Denn die Jobs werden knapp. Auch viele Ausländer, die ganz legal im Land sind, beginnen ihre Koffer zu packen. Die Rezession fordert ihren Tribut.

Statistik noch nicht zuverlässig

Noch gibt es keine zuverlässigen Zahlen darüber, ob und wie viele Migranten das Land wegen der Wirtschaftskrise verlassen. Die Daten der Statistik Austria reichen derzeit lediglich bis September 2008. Ausgerechnet in diesem Monat aber schnellte die Zahl der Wegzüge von Ausländern von 5654 im August auf 9008 hoch. Handelt es sich dabei lediglich um Registerbereinigungen oder um das erste deutliche Signal einer Abwanderung? Stephan Marik-Lebeck, Migrationsexperte der Statistik Austria, will sich noch nicht festlegen.

Globaler Trend

In weiten Teilen der Welt ist der Trend aber bereits deutlich zu erkennen: Der Wirtschaftsabschwung treibt rund um den Globus Hunderttausende der insgesamt 200 Millionen Migranten zurück in ihre Heimatländer. Auf einmal gibt es Gegenverkehr in der permanenten Völkerwanderung. In Europa tauchte das Phänomen vergangenes Jahr zuerst in Großbritannien und Irland auf, als sich tausende Osteuropäer auf den Weg nach Hause machten. Und auch im Epizentrum der Krise, in den USA, war Erstaunliches zu beobachten. Der Zustrom von Einwanderern aus Mexiko ließ fast um die Hälfte nach.

Zahlungsströme versigen

Aufschlussreicher noch waren die Tabellen, die bei Western Union und anderen Geldtransferfirmen wie Frühwarnungen über die Bildschirme flimmerten: Die Überweisungen der Ausländer in ihre Heimatländer brachen ein. Die Weltbank lieferte später den Gesamtüberblick nach. Im dritten Quartal des Vorjahrs verlangsamten sich die privaten Geldflüsse in die Entwicklungsländer dramatisch.

Geldgarant Migrant

Geschätzte 283 Milliarden Dollar betrugen die Überweisungen insgesamt im Jahr 2008. Heuer dürfte es weniger werden. In der kalten Statistik der Weltbank verbergen sich die Lebensbrüche von Millionen Menschen. Wer seiner Familie weniger Geld schickt, der hat weniger oder gar keine Arbeit mehr und muss vielleicht irgendwann seine Koffer packen.
Für arme Länder ist das eine Katastrophe. Denn manche Staaten leben von den Geldsendungen der Emigranten. Spitzenreiter ist Tadschikistan. Dort machen die Überweisungen fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts aus. Umso bitterer, dass nun auch der Arbeitsmarkt in Russland, dem wichtigsten Exil der Tadschiken, einbricht.

Viele Entwicklungsländer trifft die Krise doppelt und dreifach. Denn auch die Auslandshilfe verringert sich, ebenso wie die direkten Investitionen. Das vertieft die wirtschaftliche Malaise und macht den Wunsch, anderswo ein besseres Leben zu suchen, noch brennender. Den Heimkehrern wird deshalb eine neue Welle von Wirtschaftsflüchtlingen entgegenschlagen.

In der jetzigen Krise sind zwei gegenläufige Bewegungen in Gang gekommen. „Das ist ein klassischer Catch-22, ein Teufelskreis“, sagt Jean-Philippe Chauzy von der Internationalen Organisation für Migration in Genf. „Die Türen schließen sich für die Migranten. Gleichzeitig steigt der Druck auszuwandern. Das wird noch mehr Flüchtlinge in die Arme von Schmugglern treiben. Wir werden leider immer mehr Tragödien erleben wie unlängst vor der Küste Libyens, wo mehr als 200 Afrikaner ertranken.“ Darauf stellt sich auch Roland Schönbauer vom UN-Flüchtlingshilfswerk ein. „Die Krise treibt noch mehr Menschen in die Flucht.“
Doch rund um die Welt werden die Schotten für Migranten dicht gemacht.

Deglobalisierung und Braindrain

Schon macht das Wort von der „Deglobalisierung“ die Runde. Dadurch könnte viel vom innovativen Schwung der vergangenen Jahre verloren gehen, vor allem auch in den USA. Immigranten haben zwischen 1995 und 2005 ein Viertel aller amerikanischen Technologiefirmen gegründet. Setzt nun ein umgekehrter Braindrain ein?

Indischer Retourgang

Lange Zeit zog es Anhänger der indischen Mittelschicht in Scharen ins Ausland. Viele US-Unternehmen betrieben in Indien eine regelrechte Kopfjagd auf hoch qualifizierte Uni-Absolventen. Junge indische Akademiker waren äußerst gefragt: Sie fügten sich schnell in ihren Job ein, arbeiteten hart für ein vergleichsweise geringes Einkommen.
Doch der Traum ist für viele Auslandsinder vorläufig ausgeträumt. Die Entlassungswelle in den USA trifft genau jene Branchen am härtesten, in denen die meisten Inder arbeiten: im Bankgewerbe, bei Versicherungskonzernen und Softwareunternehmen.
Der indische Staat beobachtet diese Entwicklung mit Grauen. Denn auch das Einkommen der Millionen von indischen Arbeitern in den Golfstaaten sinkt, seit der Ölpreis im vergangenen Jahr eingebrochen ist. Die Geldbeträge, die Auslandsinder an ihre Familien zu Hause schicken, machen satte 3,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Dieses Jahr könnte dieser Geldstrom um ein Zehntel geringer ausfallen.
Die indische Regierung geht davon aus, dass in den kommenden Jahren aufgrund der Wirtschaftskrise 100.000 Auslandsinder zurückkehren werden. Bisher seien 20.000 aus dem Westen nach Indien zurückgekommen. Doch die Zahl scheint zu niedrig gegriffen. Denn die Rückkehrer machen sich bereits auf dem Wohnungsmarkt der indischen Großstädte bemerkbar.
Etwa in Neu-Delhi: Dort hatten sich die Mieten im Boom der vergangenen Jahre in vielen Stadtteilen bis zu verdreifacht. Durch den globalen Abwärtstrend gerieten die Preise ins Trudeln. Jetzt steigen sie wieder rasant an: Denn mittlerweile sind so viele Heimkehrer auf der Suche nach einer neuen Bleibe in der alten Heimat, dass vor allem Wohnungen in schicken Stadtteilen knapp geworden sind.

Finanzielle Lockangebote

Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine Rezession Zuwanderungsströme beinahe versiegen lässt. Das war in den 1930er-Jahren so und auch nach dem ersten Ölschock 1973. Damals wollten die Industriestaaten ihre Gastarbeiter wieder loswerden. Das gelang nur zum Teil.
Jetzt versuchen es viele Regierungen wieder. Die Wahl der Mittel variiert. Spanien lockt mit Geld. Seit der Immobilienmarkt zusammengebrochen und die Arbeitslosigkeit auf 14 Prozent gestiegen ist, bietet die Regierung in Madrid Ausländern eine Summe Arbeitslosengeld an, wenn sie das Land für mindestens drei Jahre verlassen. Das kann sich, je nach Beruf, auf tausende Euro summieren. Trotzdem lief das Programm schleppend an.
Die Tschechische Republik probiert Ähnliches. Sie bietet den Vietnamesen und Mongolen, die sie für Hilfsdienste  ins Land geholt hat, Flugtickets und 500 Euro Rückkehrhilfe an. Doch das sei keine Option für jene Migranten, die sich mit bis zu 14.000 Euro verschuldet hätten, um überhaupt an ein Einreisevisum zu gelangen, erklärt David Reisenzein von der Wiener Zweigstelle der Internationalen Organisation für Migration. Deshalb versuchten nun viele Vietnamesen, von Tschechien illegal nach Belgien zu gelangen, wo es eine große vietnamesische Community gebe.
Auch Japan will Zuwanderer mit Geld zur Ausreise bewegen, vor allem die rund 400.00 Südamerikaner japanischer Herkunft. Wer geht, bekommt mehr als 2000 Euro auf die Hand. Es gibt aber auch weniger subtile Methoden: In Thailand, Malaysia, Korea, den Golfstaaten und vielen anderen Ländern werden einfach die Arbeitsgenehmigungen nicht mehr verlängert.

Angst vor Xenophobie

Auf Ausländer kommen unangenehme Zeiten zu. Die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization), prognostiziert, dass im Zuge der Wirtschaftskrise weltweit bis zu 52 Millionen Menschen ihre Arbeit verlieren werden. Als Erstes wird es die Fremden erwischen. Manche Experten befürchten sogar, dass der Kampf um den Arbeitsplatz eine neue Welle der Xenophobie auslösen könnte. Auch in den aufgeschlossensten Gesellschaften.
In Großbritannien etwa, das vor einem Jahr noch seine Tore so weit offen hatte wie kein anderes Land in Europa, flammten wütende Proteste auf, weil eine französische Ölfirma Arbeiter aus Italien und Portugal anheuerte.
Die Anzahl der Osteuropäer, die auf der Insel arbeiten wollen, hat sich längst verringert. Fast 100.000 Polen sind im vergangenen Jahr in ihre Heimat zurückgekehrt. Die Arbeit in englischen Fabriken, Hotels und auf Baustellen war plötzlich nicht mehr so lukrativ wie noch vor der Krise. Rafal Nowaczek ist einer der Rückkehrer. „Ich gebe meinem Land eine zweite Chance“, sagt er. Es wird die letzte sein, das steht für ihn fest. Er sitze jetzt zwar in Warschau in diesem schicken Café, sagt er, aber solche Cafés gebe es auf der ganzen Welt. „Ich kann wieder gehen.“
Die erste Chance hatte Polen vor vier Jahren. Rafal war damals 25 Jahre alt, hatte seinen Studienabschluss in Verwaltungswissenschaften in der Tasche und machte sich auf Arbeitssuche. Doch die Monate gingen ins Land, und der Berg von Absagen wuchs. Rafal kratzte sein Geld zusammen und brach nach England auf. Am zweiten Tag schon fand er sich auf den Straßen Londons wieder, mit einem Packen Prospekte unterm Arm, die er an Passanten verteilte. Schnell lernte er die Sprache und arbeitete nach einigen Zwischenstationen zuletzt bei einer kleinen Firma, die Häuser verwaltet.

Tusk und Magda

Schließlich kreuzten zwei Personen seinen Weg: Magda, eine junge Polin, die er während eines kurzen Aufenthalts in Warschau kennengelernt hatte, und Donald Tusk, der Premierminister von Polen. Magda ist inzwischen seine Frau, auf Donald Tusk ist er allerdings nicht mehr gut zu sprechen. „Im Wahlkampf 2007 war Tusk auch in London und veranstaltete ein Treffen mit polnischen Emigranten“, erzählt Rafal. „Kommt zurück nach Polen“, habe der Politiker gerufen. Wenn er erst Premier sei, werde er dafür sorgen, dass kein Pole im Ausland arbeiten müsse, dass alle eine Wohnung und eine Arbeit bekämen. „Tja, das war wohl eine der typischen Wahlkampflügen“, sagt Rafal heute.

Daheim ist es nicht besser. Nach seiner Ankunft in Warschau hat der junge Pole wieder Dutzende Bewerbungsmappen verschickt, und wieder wächst der Berg an Absagen. Seit einigen Wochen arbeitet er bei einer politischen Stiftung in Warschau – ohne Gehalt. Bis Ende des Jahres will er noch versuchen, eine Arbeit zu finden. „Wenn das nicht klappt, werden meine Frau und ich  überlegen, ob wir gemeinsam auswandern.“  Noch allerdings schiebt er diesen Gedanken weit von sich. Ab und zu bekomme er Anrufe von polnischen Bekannten in London, die wissen wollen, wie die Lage sei. Seine Antwort: „Bleibt, wo ihr seid, kommt nicht zurück nach Polen.“
Genau dieser Umstand könnte die massenhafte Rückkehr vieler Migranten weltweit bremsen: Zu Hause ist es auch nicht besser.

(Die Presse, Printausgabe, 5. 4. 2009)

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