Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen können nicht sicher arbeiten. Die medizinische Versorgung ist katastrophal.
In Syrien beginnt nun das fünfte Jahr des Konflikts. Der Krieg ist geprägt von brutaler Gewalt, die nicht mehr zwischen Zivilisten und Kombattanten unterscheidet. Hunderttausende wurden getötet, die Hälfte der Bevölkerung ist geflohen. Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter wurden umgebracht, entführt oder vertrieben – sie hinterlassen eine gewaltige Lücke in der medizinischen Versorgung. Von etwa 2500 Ärzten, die zu Beginn des Konflikts in Aleppo arbeiteten, sind weniger als 100 geblieben.
Ärzte ohne Grenzen sollte in Syrien eines der größten medizinischen Hilfsprogramme in seiner Geschichte betreiben. Doch so ist es nicht – warum?
Als der Konflikt begann, hat Ärzte ohne Grenzen zunächst medizinisches Material an Netzwerke syrischer Ärzte geliefert. Wir selbst bekamen von der syrischen Regierung keine Genehmigung, im Land zu arbeiten. Im direkten Kontakt mit Oppositionsgruppen konnten wir dann Zugang zu den von ihnen kontrollierten Gebieten im Norden des Landes aushandeln. Im Jahr 2013 betrieben unsere Teams sechs Krankenhäuser und behandelten dort tausende Patienten. Wir mussten immer wieder mit verschiedenen lokalen Kommandeuren verhandeln, um sicher zu sein, dass unsere Präsenz respektiert, die Sicherheit unserer Teams garantiert und die Nichteinmischung in unsere medizinischen Programme gewährleistet werden.
Trotzdem konnten wir der großen Mehrheit der Bevölkerung im Zentrum des Konflikts zu keinem Zeitpunkt direkte Hilfe leisten. Wir konnten damals aber immer noch mehr tun als heute.
Mitarbeiter entführt
Mitte 2013 erschienen Kämpfer von Isis, der Gruppe, die sich später in Islamischer Staat (IS) umbenannte. Auch mit deren Kommandeuren wurden Übereinkünfte erzielt, dass sie sich nicht in den Krankenhausbetrieb einmischen und unsere Mitarbeiter respektiert würden. Dennoch entführten Isis-Kämpfer vor rund einem Jahr 13 Mitarbeiter. Unter ihnen befanden sich acht syrische Kollegen, die nach einigen Stunden freigelassen wurden. Fünf internationale Mitarbeiter wurden bis zu fünf Monate lang gefangen gehalten. Die Entführung führte zur Schließung unserer Gesundheitseinrichtungen im von Isis kontrollierten Gebiet.
Derzeit betreiben wir noch sechs Kliniken – drei davon nur mit syrischem Personal, alle im Norden des Landes. Ihre Möglichkeiten zur Hilfe sind stark eingeschränkt. Wir unterstützen weiterhin Netzwerke syrischer Ärzte.
Einigung in Afghanistan
Ich habe kürzlich eine chirurgische Spezialklinik von Ärzte ohne Grenzen im Norden Afghanistans besucht, in der verwundete Kämpfer neben ihren ehemaligen Feinden und Zivilisten liegen. Unsere afghanischen Kollegen und internationalen Mitarbeiter in dem Krankenhaus werden von allen Gruppen in diesem umkämpften Teil des Landes akzeptiert. Sichere Arbeitsbedingungen und die Nichteinmischung in die medizinische Versorgung wurden mit allen Akteuren ausgehandelt, einschließlich der afghanischen Regierung, der Talibanführung und der internationalen Truppen unter US-Führung.
Diese Art von Hilfe müsste Ärzte ohne Grenzen auch der Bevölkerung von Syrien zukommen lassen können. Humanitäre Hilfe in großem Umfang ist in Syrien dringend notwendig. Diese kann aber nicht geleistet werden, solange die Konfliktparteien sich nicht auf Hilfsorganisationen einlassen und keine konkreten Schritte setzen, damit wir sicher und effizient arbeiten können.
Alle Konfliktparteien müssen den Zugang von Helfern zur Zivilbevölkerung ermöglichen – so, wie es das humanitäre Völkerrecht vorsieht. Die Welt darf nicht länger wegsehen.
Dr. Joanne Liu ist seit 2013 internationale Präsidentin der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF).
E-Mails an: debatte@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.03.2015)