Die hitzigen Reaktionen auf die jüngsten Attentate zeigen, wie tief die Gräben in der türkischen Gesellschaft sind. Einen davon könnte Erdoğan nun zuschütten.
Es war ein Hauch von Bürgerkriegsatmosphäre, der durch das Arbeiterviertel Okmeydani in der türkischen Metropole Istanbul wehte. Die Polizei rückte auf der Jagd nach Verdächtigen mit gepanzerten Fahrzeugen an. Mit aller Macht gehen die Behörden gegen mutmaßliche Mitglieder der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) vor, die in den vergangenen Tagen Istanbul mit Attentaten in Atem gehalten hat. Im Vergleich zu früher ist die politische Bedeutung dieser linksextremen Gruppe mittlerweile enden wollend. Doch rund um die jüngsten Aktionen der DHKP-C zeigt sich etwas anderes, politisch Hochbedeutsames: Und zwar, wie tief mittlerweile die Gräben sind, die die türkische Gesellschaft durchziehen.
Anhänger des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zögerten nicht lang und machten die Opposition und vor allem die Gezipark-Protestbewegung für die Attacken der Linksextremisten mitverantwortlich. Vertreter der Opposition wiederum raunten, die Regierung selbst stecke hinter den Anschlägen. Sie sprechen bereits von einem Wiedererwachen des sogenannten „tiefen Staates“ – eines geheimen Netzwerks aus Militär, Polizei und Geheimdienst, das einst mit schmutziger Kriegsführung seine Interessen im Land durchzusetzen versucht hat; nur dass der neue „tiefe Staat“ im Vergleich zu früher von Gefolgsleuten Erdoğans durchsetzt sei.
Erdoğan ist ursprünglich angetreten, um den militärischen Parallelstaat zu zerschlagen und die Generäle dorthin zurückzuschicken, wohin sie in jedem demokratischen Land gehören – in die Kasernen. Unter der Führung seiner AKP hatte die Türkei im vergangenen Jahrzehnt einen gewaltigen Wirtschaftsaufschwung zu verzeichnen. Und zu Beginn seiner Herrschaft hat es Erdoğan zunächst auch geschafft, die Beziehungen zu seinen Nachbarländern deutlich zu verbessern.
Die guten Wirtschaftsdaten sind geblieben. Doch der Rest liegt weitgehend in Scherben. Die Türkei ist heute gespalten wie schon lang nicht mehr. Einen großen Teil der Verantwortung daran trägt der polarisierende Politiker Erdoğan.
Als der islamisch-konservative Staatsmann zur Entmachtung des Militärs schritt, erhielt er dafür anfangs auch den Applaus liberaler und linker Kräfte in der Türkei – und der EU-Staaten. Doch Erdoğan begann, die autoritäre kemalistische Elite durch seine eigenen Gefolgsleute zu ersetzen. Er baute an einem neuen autoritären System. Und auch dieses System macht mittlerweile Kritiker mithilfe von Polizei und Justiz mundtot. Zahlreiche Journalisten sitzen im Gefängnis.
Gegen einfache Staatsbürger, die den Präsidenten angeblich beleidigt haben, fahren die Richter schwere Geschütze auf. Säkulare Intellektuelle werden mit einer immer konservativeren Gesellschaftspolitik vor den Kopf gestoßen. Erdoğans Zerwürfnis mit seinem einstigen Weggefährten, dem Prediger Fethullah Gülen, hat den Machtkampf in der Türkei um eine Facette reicher gemacht – und auch in dieser Schlacht missbrauchen alle Beteiligten die von ihnen kontrollierten Teile des Staatsapparates.
Die Politik „Null Probleme mit den Nachbarn“ hat ebenfalls nicht funktioniert: Das Verhältnis zu Israel ist das schlechteste in der jüngeren türkischen Geschichte. Erdoğans einstiger „Bruder“ Bashar al-Assad ist mittlerweile ein Todfeind – was natürlich vor allem am brutalen Vorgehen des syrischen Machthabers gegen die Opposition liegt. Die Türkei steht gemeinsam mit Saudiarabien an vorderster Front der Staaten, die gegen Assad mobilmachen. Das hat auch die Beziehungen Ankaras zum Iran verschlechtert, dem wichtigsten Verbündeten Assads in der Region.
An einer politischen Front hätte Erdoğan aber die Chance, als Friedensbringer in die türkische Geschichte einzugehen: Noch nie standen die Chancen besser, den jahrzehntelangen Konflikt mit der kurdischen Untergrundorganisation PKK zu beenden.
Zunächst reagierte der Präsident noch mit Querschüssen gegen seine eigenen Minister, die das Angebot des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan positiv bewertet hatten. Doch Erdoğan sollte die Chance nützen – um wenigstens einen der tiefen Gräben in der türkischen Gesellschaft zuzuschütten.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2015)