Trotz offizieller Beileidsbekundungen habe sich die offizielle türkische Politik in Sachen des Völkermords an den Armeniern kaum geändert, meint Karin Karakaşli von der türkisch-armenischen Zeitung „Agos“.
In ihren Verlautbarungen zum Völkermord an den Armeniern fährt die Türkei eine entschiedene Zweigleisigkeit: Auf der einen Seite sagte Premier Ahmet Davutoğlu diese Woche: „Wir teilen den Schmerz der Kinder und Enkel der Armenier, die ihr Leben bei Deportationen 1915 verloren.“ Diese Tonalität hat sein Vorgänger, der jetzige Präsident Tayyip Erdoğan, vor einem Jahr als erster türkischer Regierungschef verwendet. Gleichzeitig wird mit äußerster Schärfe gegen Staaten gewettert, die den Genozid beim Namen nennen.
„Ja, Erdoğan hat als erster Premier zumindest irgendetwas gesagt. Aber das kann nur ein erster Schritt sein. Wer hat wen getötet? Wer übernimmt dafür die Verantwortung? Davon ist keine Rede“, relativiert die Journalistin Karin Karakaşli von der in Istanbul ansässigen türkisch-armenischen Wochenzeitung „Agos“ die Beileidsbekundungen. Sie sieht nicht, dass sich in den gut zwölf Jahren AKP-Regierung groß etwas geändert hätte: „Diese Politik des Staates ist hundert Jahre alt, so alt wie der Völkermord.“
Doch der Staat ist nicht alles, wie Karakaşli im Gespräch mit der „Presse“ betont: „Die türkische Gesellschaft ist dem Staat da meilenweit voraus. Es wird heftig debattiert, es werden mutige Fragen gestellt, es gibt Konferenzen, bei denen alle Tabuthemen angesprochen werden.“
So viel zur Zivilgesellschaft, aber was ist mit der Durchschnittsbevölkerung? Denn bis in die Schulbücher ist diese Offenheit nicht gedrungen: In der offiziellen Version der Geschichte würden Armenier noch immer als „innere Feinde“ und „Handlanger imperialistischer Mächte“ dargestellt, klagt Karakaşli: „Man muss halt die Chance haben, einen normalen Armenier zu treffen, um zu sehen, dass das ganz gewöhnliche Staatsbürger sind.“ Und diese Chance ist nicht eben groß, bei etwa 60.000 Armeniern unter mehr als 77Millionen türkischen Staatsbürgern. Es werde also noch eine ganze Weile dauern, bis die gesamte Bevölkerung die Möglichkeit habe zu wissen, was damals, 1915, geschehen ist: „Die Benennung kommt dann nachher.“
Stichwort Benennung: Auch die in diversen Parlamenten verabschiedeten Resolutionen und Erklärungen zum Genozid sieht Karakaşli durchaus kritisch: „Man fragt sich halt, was die politische Absicht ist. Wenn die Geschichte nur im Rahmen der Beziehungen zur heutigen Türkei instrumentalisiert wird, finde ich das schade und sogar peinlich. Es hängt immer davon ab, wie man das macht.“
Trotz der einschlägigen Indoktrinierung in den Schulbüchern sei übrigens keine Form von Alltagsrassismus gegenüber den Armeniern zu beobachten, sagt die Journalistin: „Der Alltag verläuft normal, freilich in dem Sinn, dass in der Türkei eigentlich alles abnormal ist. Nicht nur für Armenier, sondern für alle Staatsbürger – wenn man irgendwie oppositionell hervortritt.“ Für „brave“ Armenier gebe es hingegen keinerlei Probleme. (hd)
ZUR PERSON
Karin Karakaşli ist Journalistin bei der türkisch-armenischen Zeitung „Agos“ in Istanbul. Sie war auf Einladung des Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (VIDC) in Wien. [ VIDC/Patrizia Gapp]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2015)