Filmfestival: In Cannes schmiedet man den Kinokanon

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"Cannes ist eine Frau!", hieß es bei der Gala: Ein Frauenschwerpunkt soll den Chauvinismus-Vorwurf früherer Jahre vergessen lassen. Emmanuelle Bercots Eröffnungsfilm ist ein für Cannes typisches Sozialdrama. Glamour ist rar.

Vor dem Palais des Festivals tummeln sich Schaulustige und Security-Leute, im Jachthafen ruhen die Boote wie riesige Luxuspantoffeln, und die filmaffine Welt blickt wieder einmal auf die südfranzösische Riviera, wo zum 68. Mal das Cannes-Filmfestival stattfindet. Bei der Programmverkündung im April klagten Journalisten vergebens im Namen ihrer Heimatländer: Wo sind die Briten, wo die Spanier im Wettbewerb? Exklusivität gehöre eben zum Ethos des Events, wie Direktor Thierry Frémaux in Interviews betont, der Qualitätsanspruch sei ausgesprochen hoch.

Wer schon einmal hier war, scheint allerdings bessere Teilnahmechancen zu haben: Nanni Moretti etwa stellt bereits zum achten Mal einen Film für das Hauptprogramm. Renommierte Stammgäste wie er sind wesentliche Garanten von Premierenprestige, selektiert wird nach dem Auteurismus-Prinzip – gute Regisseure machen gute Filme. Kritik an diesem Zirkelschluss begegnet Frémaux heuer mit einer zaghaften Frischzellenkur. Neben üblichen Verdächtigen konkurrieren auch eine Handvoll Wettbewerbsneulinge um die Goldene Palme, bis auf den Ungarn László Nemes (in dessen Langfilmdebüt „Son of Saul“ es um das Mitglied eines KZ-Sonderkommandos geht) sind aber keine wirklich Unbekannten darunter. In Cannes schmiedet man den Kinokanon, Innovation passiert längst anderswo.

Nur zwei Frauen im Wettbewerb

Viel augenfälliger ist die Reaktion des Festivals auf den wiederholten Chauvinismus-Vorwurf. 2012 beklagte ein offener Brief dreier Künstlerinnen in „Le Monde“, Männer würden in Cannes ihre Filme zeigen, Frauen nur ihren Busen. Nun sind Isabella Rossellini und Sabine Azéma Juryvorsitzende zweier Preiskategorien, eine Ehrenpalmen-Verleihung würdigt die Nouvelle-Vague-Legende Agnès Varda, eröffnet wird ostentativ mit „La Tête haute“ von Emmanuelle Bercot. „Cannes ist eine Frau!“ – so proklamierte Zeremonienmeister Lambert Wilson überschwänglich bei der Eröffnungsgala. Die Nebensektionen unterfüttern den Schwerpunkt, im Wettbewerb finden sich indes nur zwei Beiträge von Frauen – ob ein strukturelles Problem von Filmindustrie und Gesellschaft mit der Programmkosmetik eines Festivals bereinigt werden kann, ist aber ohnehin fraglich.

Bercots Eröffnungsfilm verweist trotz einer Nebenrolle für Catherine Deneuve auch auf das heurige Glamourtief des Festivals, das sonst mit starträchtiger Hollywoodware den Auftakt gibt. Stattdessen signalisiert der Start mit einem Sozialdrama Diskursbewusstsein – für gewöhnlich ein Markenzeichen der Berlinale, die Cannes heuer in puncto US-Prominenz übertrumpfen konnte. Von einer Imagerochade kann dennoch keine Rede sein: „La Tête haute“ ist ein typischer Cannes-Film, erinnert mit seinem engagierten Gestus an den Palmengewinner 2008, „Die Klasse“. Im Zentrum steht der 15-jährige Malony (eindringlich: Debütant Rod Paradot), ein grantiges Gfrast aus einer Problemfamilie, seit Kindertagen Dauergast beim Jugendamt. Wenn er in seiner Adidas-Jacke zur Anhörung kommt, werden alle scharfen Gegenstände versteckt, ein falsches Wort kann zum Wutausbruch führen. Geschildert wird sein Etappenlauf durch die Besserungsanstalten unter der Beobachtung einer barmherzigen Richterin (Deneuve), Konflikte und Rückfälle punktieren die Fortschrittskurve. Die Recherchebasis des Drehbuchs und der Einsatz von Laiendarstellern in Kleinrollen bürgen für die Authentizität des Sujets, das sich allerdings bald als vorhersehbares Moralstück erweist und auch ästhetisch wenig Originalität zeigt, emotionale Höhepunkte werden je nach Stimmung mit Händel oder Hip-Hop markiert.

Die Besetzung Deneuves als hohe Staatsbeamtin und zentrale Bezugsperson sorgt für das Zuschauervertrauen in den Sozialapparat, der in seiner besorgten Selbstlosigkeit die eigentliche Hauptfigur des Films ist. „La Tête haute“ macht es sich aber sehr einfach mit dem schwierigen Fall Malony – ein Junge mit Potenzial, der in der Milieufalle feststeckt, dessen Zorn nur Zeichen tiefer Verletzlichkeit ist. Aufgrund seiner widerspruchslosen, klischeehaft psychologisierten Figurenzeichnung verkommt der Film zum avancierten Motivationsvideo, am Ende schreitet Malony erhobenen Hauptes Richtung Arbeitsmarkt.

Subtiles Familienporträt aus Japan

Auch im japanischen Wettbewerbsbeitrag „Umimachi Diary“ sorgen sich Ältere um Jüngere, doch die Dramaturgie ist deutlich differenzierter. Drei Schwestern kümmern sich nach dem Tod ihres entfremdeten Vaters um dessen verwaiste Tochter. Regisseur Hirokazu Koreeda erweist sich erneut als subtiler Familienporträtist: Die Sehnsüchte, Stärken und Schwächen der grundverschiedenen Frauen kommen in leichtblütigen Dialogszenen zum Ausdruck. Geteilter Alltag ist der Grundstein von Gemeinschaft, Erinnerung ihr Kitt. Aufgrund seiner sommerlichen Kulissen und eines süßlichen Klimpersoundtracks flirtet der Film zwar mit Arthaus-Kitsch, streut aber doch genug Momente des Zweifels, um Überzuckerung zu vermeiden. Eines hat er „La Tête haute“ jedenfalls voraus: Dort geht es um Themen, hier um Menschen.

DAS FESTIVAL

Das 68. Festival de Cannes (13.–24. Mai) läuft heuer erstmals unter der geschäftlichen Leitung des Canal-Plus-Mitbegründers Pierre Lescure. Der Wettbewerb ist dominiert von französischen (Ko-)Produktionen. 19 Spielfilme sind im Rennen um die Goldene Palme. Außer Konkurrenz werden neue Arbeiten von Pixar und Woody Allen präsentiert, außerdem das Regiedebüt von Natalie Portman, eine Amos-Oz-Verfilmung in hebräischer Sprache. Neben Portman zählen Cate Blanchett, Colin Farrell und Matthew McConaughey zu den erwarteten Stargästen, den Juryvorsitz haben die Brüder Joel und Ethan Coen inne. Österreich ist heuer nur in den unabhängigen Nebensektionen präsent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2015)

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