Wien 1815: Eine neue Landkarte für Europa

Wiener Kongresz 1814/15
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Vor 200 Jahren, am 9. Juni 1815, wurde auf dem Wiener Kongress die Schlussakte unterzeichnet. Die Landschaft Europas wurde dadurch neu geordnet. Wien hatte sich als Gastgeber mit Anmut und Würde präsentiert.

Wir haben es erlebt, wie sich seit Ausbruch der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise Merkel und Co., gestützt auf kundige Beamte und Berater, auf den Gipfelkonferenzen des Europäischen Rates darum bemühten, eine Destabilisierung Europas zu vermeiden. Im Morgengrauen gab es Pressekonferenzen, die müden Gesichter zeugten von hart ausgetragenen Kontroversen, bei denen eine sachliche und kollegiale Atmosphäre gewahrt wurde.

Das gab es – mit Ausnahme der Pressekonferenzen – bereits vor 200 Jahren, und zwar erstmals in der Geschichte, in Wien: Hier verhandelten nur Gott verantwortliche Monarchen gemeinsam mit Ministern, Kanzleibeamten und Politikberatern auf dem Wiener Kongress vom November 1814 bis Juni 1815 gleichfalls um das Schicksal Europas, die Katastrophe lag bereits hinter ihnen. Ursache waren nicht wirtschaftliche Verwerfungen, sondern die vorangegangenen Napoleonischen Kriege, die längste Kriegsphase in der europäischen Geschichte seit dem Dreißigjährigen Krieg, die das alte Staatensystem in Europa zerstört hatte. Nach Napoleons Comeback und neuerlicher Truppenmobilisierung im März 1815 musste man im Kongress rasch eine Sicherheitsarchitektur zimmern. Auch das eine Parallele zu den Ereignissen zweihundert Jahre danach, als europäische Regierungschefs, allerdings mit friedlichen Mitteln, das Krisenmanagement gegen einen Usurpator übernahmen, der Grenzen ignorierte. In gewisser Weise hat die Rückkehr Napoleons aus dem Exil in Elba den Kongress gerettet, Hunderte von Fragen hatten sich aufgestaut, und es war keine Lösung in Sicht, und nun musste alles sehr schnell gehen. Georges Clemenceau im Rückblick: „Der Robinson Crusoe von Elba zerstreute alle Narreteien, indem er einfach nur die Insel wechselte.“


Ewiger Friede. Einen Kongress wie diesen hat es in der Geschichte nie gegeben. Eigentlich hat er gar nicht getagt, denn eine Vollversammlung wurde nie einberufen, sie wäre ohnehin wegen der hohen Zahl der Teilnehmer nicht arbeitsfähig gewesen. Eröffnet wurde er eigentlich auch nicht, denn die Besucher kamen gleitend im Herbst 1814 in Wien an und begannen am 1. November mit der Arbeit. Doch zumindest der Schluss ist eindeutig datierbar: Am 11. Juni 1815 wurde der Wiener Kongress offiziell beendet, zwei Tage zuvor wurde in einer feierlichen Zeremonie in Gegenwart aller Delegationen die Schlussakte unterzeichnet. Das Originaldokument befindet sich seit 1815 in Wien. Zu Recht: Österreich hat den Kongress nicht nur finanziert (mit dem Geld, das für die mondäne Veranstaltung aus der österreichischen Staatskasse aufgebracht werden musste, hätte man spielend auch einen neuerlichen Feldzug gegen Napoleon finanzieren können), sondern auch mit Außenminister Metternich die treibende Person bei den Verhandlungen gestellt. Zugleich gelang es, mit Anmut und Würde den Rang einer europäischen Großmacht unter Beweis zu stellen.

„Niemals waren die Erwartungen der Öffentlichkeit so hoch gesteckt wie vor der Eröffnung dieser feierlichen Zusammenkunft. Von ihr versprach man sich eine allgemeine Reform des politischen Systems Europas, Garantien für einen ewigen Frieden, ja sogar die Rückkehr des Goldenen Zeitalters“, schrieb Friedrich von Gentz im Sommer 1815. Was war wirklich erreicht worden? Die Schlussakte enthält 120 Artikel im Hauptteil und 250 im Anhang. Das ganze mühsam gestrickte Geflecht über Abtretungen, Tausch und Neuordnung von Gebieten, die neue politische Landkarte Europas, wurde hier niedergeschrieben. Das vertrackteste Problem, nämlich die verwirrend bunte Gemengelage der deutschen Klein- und Mittelstaaten, vor allem am linken Rheinufer, das von Frankreich annektiert worden war, wurde durch die Gründung eines Deutschen Bundes gelöst: Dadurch entstand in Mitteleuropa ein loser Staatenbund mit 39 souveränen Fürstentümern und freien Städten. Für Deutschland ein Desaster: Es entstand kein gemeinsamer deutscher Staat, da verblieb eine offene Wunde. Noch ein Flickenteppich, der gelöst werden musste, war Italien, den Briten kam man mit der Gründung der mit Belgien vereinigten Niederlande entgegen. Das Problem der Aufteilung von Sachsen und Polen, wo Preußen und Russland Gebietsforderungen hatten, wurde in einem Prozess des Tauschens von Gebieten mit gleich vielen „Seelen“ gelöst.

Fortschritt und Erfolg mit friedlichen Mitteln war nur möglich, weil ein engerer Kreis von vier Mächten – Russland, Österreich, England, Preußen – das Heft in die Hand nahmen. Es war schon für die vier Mächte schwierig genug, sich aufeinander abzustimmen. Sie erledigten ihre Arbeit daher mehr oder weniger ohne die kleineren Staaten zu konsultieren. Diese waren naturgemäß unzufrieden, sie hatten aber keine andere Wahl, als sich dem Willen der Großen zu beugen. Selbst bei der Schlussakte waren nur acht Staaten zur Unterzeichnung geladen, die übrigen hatten die Option beizutreten, was bedeutete: Sie akzeptierten den Vertrag zur Gänze.

Spitzelseuche. Trotz des Eindrucks heiterer Sorglosigkeit wurde viel und und hart gearbeitet. Doch bürgerliche Kritiker mit ihrem pedantischen Zweckmäßigkeitsdenken störte das leichtsinnige Improvisieren und die leichte Ablenkbarkeit der Hocharistokratie durch Vergnügungen. Wo bleibt bei den ganzen Allüren der sittliche Kern der Friedensversammlung? Und jeder Schritt, den der Kongress bei der Neuordnung Europas, bei der Neudefinition seiner Dynastien, Grenzen und Einflussgebiete machte, mutete unendlich schmerzhaft und schwierig an. Wiederholt schien man in Sackgassen gelandet zu sein, dann veranstaltete man ein paar ausgelassene Feste und kehrte ausgeruht wieder zurück an den Verhandlungstisch, rang um einen Kompromiss, versäumte nicht, sobald er gefunden war, ihn schleunigst zu Papier und in die rechte Form zu bringen. Wien war zwar von Metternichs Spitzeln verseucht, sie sammelten Tausende von Informationen, ein großer Teil davon völlig sinnlose Details aus dem Liebesleben der Prominenten, aber über die Details der diplomatischen Arbeit gelangten keine genauen Informationen an die Öffentlichkeit. Die Beratungen in der Staatskanzlei liefen geheim ab, die Zeitungen stürzten sich daher auf den zeremoniellen Glanz vor allem der Bälle. Das Phänomen wirkt bei der medialen Darstellung des Wiener Kongresses als heiteres Kostümstück bis heute nach. Doch es hat einen wahren Kern: In einer Atmosphäre, wo man einen Fürsten beim Buffet schon einmal mit einem Kellner verwechseln konnte, entstanden vorübergehend in Wien egalisierende und demokratisierende Effekte. Der europäische Hochadel gönnte sich hier gleichsam Ferien von der Etikette und genoss die gesellschaftliche Promiskuität, die sexuelle ohnehin.

Die Historiker sind sich in der Beurteilung des Wiener Kongresses uneinig. Die einen bescheinigen ihm, den „bestmöglichen Kompromiss“ und „gute Arbeit“ geschafft zu haben (Thierry Lentz aus Frankreich), andere sehen eine „durch atavistische Obsessionen bedingte Kurzsichtigkeit.“ (Adam Zamoyski). Waren die Staatsmänner 1814/15 wie oft behauptet Reaktionäre, die eine grotesk-überholte Form monarchischer Herrschaft perpetuieren wollten, oder nicht vielmehr Realisten? Durch Napoleon war etwas in Europa geweckt worden, was sie zutiefst beunruhigte: Radikalismus in der Politik. Das widersprach ihrer Vorstellung von moralisch indifferenter Staatsvernunft. Durch den Wiener Kongress wurde die Nationalisierung in Europa hinausgeschoben. Das kann man positiv und negativ sehen. Die Politiker, die die Kongressakte ausgehandelt haben, wurden mehrheitlich zwischen 1769 und 1773 geboren, in nationalen Kriterien zu denken, war ihnen völlig fremd. Im Befreiungskampf gegen Napoleon war eine gewisse nationalistische Aufwallung – etwa in Preußen – durchaus willkommen, sie diente der allgemeinen Mobilisierung.

Doch Nationalismus und Selbstbestimmungsrecht der Völker galt ihnen nach den Erfahrungen mit der französischen Nation unter Napoleon als verwerflich, nicht sie, die Monarchen, sondern die Revolutionäre hatten den Krieg ideologisiert und moralisiert. So ignorierten sie das starke Nationalgefühl in Deutschland, Polen und Italien. Wie mächtig sich der Nationalismus im 19. Jahrhundert noch entfalten sollte, konnten sie nicht ahnen.

SCHLUSSAKTE

Am 9. Juni 1815 wurde die Schlussakte des Wiener Kongresses unterzeichnet.Ziel war die staatliche Neuordnung Europas: In Wien wurden die Fundamente für ein neues Völkerrecht gelegt, der Deutsche Bund gegründet, die territoriale Aufteilung Italiens durchgesetzt, Polen und Sachsen wurden aufgeteilt, die Niederlande erlebten ihre Geburtsstunde genauso wie die Schweizer Neutralität, der Sklavenhandel wurde abgeschafft, die freie Schifffahrt auf Flüssen geregelt.
Staatsarchiv

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2015)

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