Russische Wirtschaft: Ein Leben nach dem Multiorganversagen

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RUSSIA SCHOOLSAPA/EPA/YURI KOCHETKOV
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Glaubt man Moskaus Elite, sind Rubel-Crash, Strukturschwäche und Sanktionen Schnee von gestern. Anzeichen einer positiven Wende sind wirklich da. Zweckoptimismus aber auch.

Wien. Auch eine Handvoll Schwalben macht noch keinen Sommer. Aber immerhin deuten sie an, dass Leben zurückkommt und die Winterstarre sich löst. Und während in Moskaus Himmel das Grau des Nordens dem fröhlichen Blau der Sommermonate zu weichen beginnt, lassen unten auf der Erde einige Ereignisse erahnen, dass auch das Schicksal es wieder gut mit dem Land zu meinen scheint.

Am meisten für Stimmung sorgen die immer positiveren Prognosen für das Wirtschaftswachstum. Finanzminister Anton Siluanov hat den Optimismusreigen vor einigen Wochen eröffnet, zu dem sich zuletzt sogar Herman Gref, der liberale Chef der größten russischen Bank, Sberbank, gesellt hat. Dazwischen klinkte sich Putin selbst ein und erklärte, man habe das Ärgste überwunden. Es sei „klar, dass es zu keinem Kollaps kommen wird“; außerdem sagte er: „Ich würde das gar nicht einmal Krise nennen. Es gibt bestimmte Phänomene, bestimmte Schwierigkeiten.“

Ursachen für den Crash

So harmlos war der Absturz aber beileibe nicht. Drei Ereignisse haben die Wirtschaft im Herbst 2014 und Anfang 2015 nach unten gezogen und lasten teilweise bis heute auf ihr: So versperrten die westlichen Sanktionen einzelnen russischen Konzernen den Zugang zum westlichen Kapitalmarkt und gewisser Technologie. Dazu kam, dass der Ölpreis seit Sommer 2014 bis Jänner 2015 um über 60 Prozent einbrach, was den Rubel nach unten riss. Am Ende waren diese Momente aber nur Verstärker eines strukturbedingten Abwärtstrends seit 2012, weil die Voraussetzungen für ein investitionsgetriebenes Wachstumsmodell als Ersatz für das ölgetriebene fehlten.

Wer Anfang 2015 einen Einbruch des BIPs um vier Prozent prophezeit hatte, galt als Optimist. Allen war klar, dass das Land ein Multiorganversagen erlitten hatte.

Woher also der plötzliche Optimismus, dass das Ärgste überstanden sei, sodass sogar die Weltbank nun statt 3,8 Prozent nur noch 2,7Prozent Schrumpfung prophezeit und für 2016 ein Wachstum von 0,7 Prozent voraussagt? Woher die Zuversicht, obwohl das Wirtschaftsministerium soeben mitteilte, dass die Rezession sich im April auf 4,2 Prozent abermals beschleunigt hatte, weil Investitionen ausgeblieben waren und die erstmals seit 2000 rückläufigen Realeinkommen die Nachfrage auf ein Sechs-Jahres-Minimum gesenkt haben?

Optimismus und Joker

Ein zentraler Optimismusschub ist dem Faktum geschuldet, dass sich der Rubel ziemlich stabilisiert hat. Das hat nur zum Teil mit dem seit Ende Jänner um ein Drittel gestiegenen Ölpreis zu tun. Zu einem beträchtlichen Teil rühre die Gegenbewegung daher, dass die Wirtschaft sich robuster gezeigt habe, als noch vor wenigen Monaten befürchtet worden war, so Zentralbank-Vizechefin Xenia Judajewa. Neben dieser Entwicklung und der Tatsache, dass sich die Russen nach dem Schock allmählich an die neue Situation gewöhnen, gilt abermals der jetzt wieder gestiegene Ölpreis als Träger des neuen Optimismus. Dies, obwohl unter Experten als ausgemacht gilt, dass nur Investitionen die an ihre Grenzen gelangten Produktionskapazitäten ausweiten helfen können.

So ist denn der vierte Grund für Optimismus auch tatsächlich mit der Hoffnung auf diesen Paradigmenwechsel hin zur Investitionsfreundlichkeit verbunden, der aber Strukturreformen und die Aufhebung der Sanktionen voraussetzt, wie die Weltbank schreibt.

Es ist ein Spiel mit dem Prinzip Hoffnung, das den Diskurs in Russland prägt. Wer wie Ex-Finanzminister Alexej Kudrin Erfahrungen mit Reformbemühungen hat, kann diesem Zugang wenig abgewinnen. Der Ölpreis sei bereits wieder zu hoch, um die Reformfaulheit zu überwinden, merkte er an.

Es gilt als offenes Geheimnis, dass Putin seinen international angesehenen Finanzexperten Kudrin als Joker bereithält, um ihm beizeiten den Premiersposten zu übergeben. Diese Woche hat Kudrin zum ersten Mal die prinzipielle Bereitschaft dazu signalisiert – unter der Voraussetzung, dass es zu Reformen, unter anderem politischen, komme. Denn im Unterschied zu anderen ließ Kudrin mit der Aussage aufhorchen, dass „die heiße Phase der Krise noch bevorsteht“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2015)

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