Wenn Europa beginnt, die Globalisierung zu gestalten

Die EU muss sich radikal verändern, nicht nur für London oder Athen. Sie muss neue Prioritäten setzen, um zu bestehen, sich aber auch von Altlasten befreien.

Die Krise der Europäischen Union mag für Skeptiker und Nationalisten ein willkommener Anlass sein, das Konstrukt gänzlich infrage zu stellen. Wer diese Rückgewandtheit aber ablehnt, braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie diese Krise auch positiv wirken könnte. Sie ist eine Chance, die Defizite der EU endlich zu beseitigen. Die Präsidenten von EU-Kommission, EU-Parlament, EU-Rat, Europäischer Zentralbank und Euro-Gruppe haben nun einige Eckpfeiler für eine solche radikale Reform entworfen. Sie haben einen Fahrplan gewählt, der auch notwendige Veränderungen durch das britische Referendum einbezieht.

Die Dynamik für eine Neuordnung ist zweifellos da. Sie wird durch London ebenso angetrieben wie durch Athen. Nun gilt es nur noch, sie in eine gute Richtung zu lenken. Optimisten wie der Münchner Zeithistoriker Andreas Wirsching sehen die aktuelle Krise nicht mehr als Zerfallsprozess, sondern als Begleiterscheinung des Zusammenwachsens. Vielleicht ist das so. Doch die zentrifugalen Kräfte aus einer Finanz- und Wirtschaftskrise gepaart mit einem aufkeimenden Nationalismus sind nicht zu unterschätzen. Die EU muss sich schon radikal ändern, will sie bestehen bleiben. Und sie muss dem Nationalismus etwas entgegensetzen, um ihre weitere Existenz zu rechtfertigen.

Was waren die Defizite der Vergangenheit? Es waren eine unausgereifte Währungsunion, eine allzu rasche Erweiterung auch um Risikoländer, vor allem aber war es eine nach innen gekehrte Politik. Ein Jahrzehnt lang ging es um das Verwalten statt um das Gestalten. Die EU-Institutionen müssen, wenn sie nun darangehen, die Wirtschafts- und Währungsunion zu vollenden und neue Sicherheitsnetze einzuziehen, unbedingt auch Ballast abwerfen. Ob es um Nichtraucherregeln, um eine völlig überbürokratisierte Landwirtschaft oder um einen Kennzeichnungsirrgarten für Konsumenten geht, für die EU sollte das Verwalten in den Hintergrund treten, den Mitgliedstaaten und Kommunen überlassen bleiben. Sie sollte sich auf eine viel wichtigere neue Aufgabe konzentrieren.

Der Rückhalt für einen neuen Weg ist vielleicht größer, als es den Verantwortlichen in Brüssel bewusst ist. Denn neben einer wachsenden Gruppe von Menschen, die sich angesichts der Krise am liebsten wieder in kleine Lebens- und Wirtschaftsräume zurückziehen möchten, ist auch eine neue Gruppe entstanden, die erkannt hat, dass es nichts bringt, sich gegen alles zu stemmen, was von jenseits nationaler Grenze kommt. Es sind vorwiegend junge Bürger, die heute die Globalisierung als Faktum anerkennen. Für sie ist dieses Phänomen nicht allein von gierigen Konzernen geschaffen worden, sondern schlicht durch moderne Verkehrs- und Kommunikationsnetze entstanden.

Was die Globalisierungsgegner vom ganz linken und ganz rechten Rand vereint, ist der Wunsch nach Abgrenzung. Die einen verlangen eine Abgrenzung von Waren und Dienstleistungen, die anderen von Waren und Menschen. Gemeinsam sind sie deshalb gegen TTIP und alle anderen Verträge zur Erleichterung des internationalen Handels. Die Gruppe der Globalisierungsrealisten hat hingegen bisher keinen gemeinsamen Anker. Ihrer könnte die EU sein.


Die Vorschläge der fünf Präsidenten mögen ein erster Impuls sein, die internen Probleme der Union in den Griff zu bekommen. Sie könnten helfen, den Euro wieder zu stärken, das Risiko neuer Krisen zu minimieren. Will die EU aber jene begeistern, die sich vor einer zusammengewachsenen Welt nicht fürchten, müsste sie – wie es der Schweizer Autor Lukas Bärfuss in einem Interview mit dieser Zeitung gesagt hat – beginnen, die Globalisierung zu gestalten. Sie müsste internationale Verträge wie TTIP dazu nutzen, die Spielregeln des Welthandels neu zu schreiben. Sie müsste Fehlentwicklungen in der Finanzwirtschaft oder beim Klimaschutz entgegenwirken.

Wie das gehen soll? Die Europäische Union ist der größte Handelsraum der Welt, mit einer enormen Bedeutung für internationale Partner – von China bis zu den USA. Sie hat allein dadurch Macht zur Gestaltung. Aber das wird nur funktionieren, wenn sie endlich aufhört, sich nur noch mit sich selbst zu beschäftigen.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2015)

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