„Victoria“: 140 Minuten Berlin, ungeschnitten

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victoria(c) Polyfilm
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„Victoria“ von Sebastian Schipper ist in einem einzigen Take entstanden: ein beachtlicher logistischer Kraftakt. Doch der Reise durch die Großstadt mangelt es an Selbstvertrauen.

So gut wie jeder Text über Sebastian Schippers „Victoria“ weist bald darauf hin, dass der Film in einer ungeschnittenen, 140-minütigen Einstellung gedreht wurde – auch dieser. Sogar das Kinoposter wirbt mit dem Konzept: „One Girl. One City. One Night. One Take.“ Seit der Berlinale-Premiere befeuert die Echtzeit-Plansequenz als wirkmächtiger Aufhänger einen Hype, der allmählich Früchte trägt: Beim Deutschen Filmpreis räumte „Victoria“ ab, was viele als Befreiungsschlag für das in verkrusteten Fördersystemen verhaftete deutsche Kino sehen. Da geht wieder was, da hat sich endlich jemand etwas getraut – so der euphorische Tenor.

Gewagt ist „Victoria“ aber nur aus produktionstechnischer Sicht, erzählerisch bietet er kaum Überraschendes. Wie schon bei Schippers Debüt „Absolute Giganten“ (1999) geht es um eine wilde Nacht in einer deutschen Stadt – damals war es Hamburg, heute lockt Berlin. Der Film eröffnet mit einer schönen Clubszene, die sich noch Zeit zum Atmen nimmt: Eine junge Frau (bezwingend ungezwungen: Laia Costa) tanzt unter pulsierenden Lichtern ausgelassen zu dumpfen Technobeats, versucht ihr Haar hochzustecken. Als sie wenig später auf dem Nachhauseweg von einer beduselten Jungstruppe angeschäkert wird, stellt sie sich ihnen als Victoria vor – aus Spanien. Die Burschen wiederum behaupten in gebrochenem Englisch, „real Berlin guys“ zu sein, und laden zu einem späten Bier. Dass es dabei nicht bleiben kann, ist schade, aber klar: Das Erlebniskino-Versprechen muss eingelöst werden, weshalb nach etwa einer Stunde ein hanebüchener Thriller-Plot an den Haaren herbeigezogen wird. Da ist noch eine Rechnung offen, eine Bank soll ausgeraubt werden, und Victoria verpflichtet sich als Fahrerin.

Filmische Achterbahnfahrt

Die Zäsur ist symptomatisch für einen Zwiespalt im überambitionierten Zugang des Films. Einerseits sucht er Authentizität und Unmittelbarkeit in der Improvisation, und tatsächlich zeitigt die One-Take-Strategie interessante Effekte. Die Freiheit macht sich vor allem im Dialog bemerkbar, das verspielte Geplänkel zwischen den Protagonisten hat Charme und ist in seiner Unbeholfenheit der trinkseligen Situation angemessen – selten purzeln die Worte so zwanglos im deutschsprachigen Film. Aber zugleich steht „Victoria“ als filmische Achterbahnfahrt unter enormem Unterhaltungsdruck und fürchtet sich vor Abschweifungen, weshalb dann doch wieder alles auf Schiene fahren muss. Besonders bei den Wendepunkt-Kapriolen des äußerst schematischen Genre-Teils führt das zu Unstimmigkeiten und untergräbt die Glaubwürdigkeit, die Inszenierung spürt man nämlich immer durch: Schipper arbeitete fünf Jahre lang mit seinem Freund Tom Tykwer am Drehbuchgerüst, nach intensiven Proben gab es drei Drehanläufe, der letzte Versuch ist nun auf der Leinwand zu sehen.

Chuzpe kann man dem Projekt nicht absprechen. Als logistischer Kraftakt ist „Victoria“ beachtlich, wenngleich nicht der Erste seiner Art. Seit Video- und Digitaltechnik die Einstellungsdauer im Kino entgrenzt haben (bei 35-mm-Film gab die Länge der Rolle ein etwa elfminütiges Zeitlimit vor), mehren sich die Experimente mit ausgedehnten Aufnahmen. Zu den eindrucksvollsten zählt Alexander Sokurows „Russian Ark“, eine eineinhalbstündige Zeitreise durch die Eremitage in St. Petersburg. Im Vergleich zu dessen choreografiertem Komparsenaufgebot wirkt Schippers Film geradezu locker, für den norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen (der im Abspann noch vor dem Regisseur aufscheint) waren die Dreharbeiten dennoch aufreibendes Konditionstraining.

Entlang der Friedrichstraße

„Das wahre Berlin findet auf der Straße statt“, heißt es zu Beginn. Tatsächlich wurde entlang der Friedrichstraße gedreht, Stationen sind nach dem (falschen) Kellerclub ein Spätkauf, ein Hausdach, ein Café, eine Tiefgarage und das Westin Grand Hotel. Vom „wahren“ Berlin bekommt man aber kaum etwas mit, die Stadt wirkt seltsam menschenleer: Um einen reibungslosen Ablauf zu ermöglichen, musste man Passanten auf Abstand halten. Zugleich bleiben die Kulissen meist unscharf im Hintergrund, weil sich die Kamera nicht von den Figuren losreißen kann. Diese sind chargenhaft wie ihre Spitznamen – Blinker, Boxer, Fuß. Nur Frederick Lau als „Sonne“ verschafft sich über seine neckische Annäherung an Victoria ein Profil.

Letztlich mangelt es „Victoria“ an Selbstvertrauen: Der ungebrochene Bilderfluss mit Menschen in Bewegung bedarf keiner dramaturgischen Aufputschmittel, um mitzureißen. Kino ist, wenn man am Ende merkt, dass in der Zwischenzeit die Sonne aufgegangen ist – der Rest gehört eher ins „Guinness-Buch der Rekorde“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2015)

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