Ein Völkermord vor den Augen der Welt

A woman mourns among graves in Memorial Center Potocari, near Srebenica
A woman mourns among graves in Memorial Center Potocari, near SrebenicaREUTERS
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Vor 20 Jahren wurden rund um die bosnische Stadt Srebrenica tausende Männer von bosnisch-serbischen Truppen massakriert. Die Vereinten Nationen, die der Bevölkerung Schutz versprochen hatten, sahen dem Massenmord tatenlos zu.

Die Schlächter waren gründlich. Wenn das Morden bis in die Nacht gedauert hatte, kamen sie in den Morgenstunden zurück, um sicherzugehen, dass keiner überlebt hatte. Wer noch atmete, bekam eine Kugel verpasst. Einer der wenigen, die doch überlebten, schilderte das Massaker später so: „Als sie das Feuer eröffneten, habe ich mich auf den Boden geworfen. Ein Mann fiel auf meinen Kopf. Ich konnte spüren, wie das warme Blut über meinen Körper rann. Ein anderer Mann schrie um Hilfe. Er bettelte sie an, ihn zu töten. Und sie sagten nur: Lass ihn leiden, wir bringen ihn später um.“

Vor 20 Jahren ereignete sich der schlimmste Massenmord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Srebrenica – der Name der Kleinstadt im Osten von Bosnien und Herzegowina, nahe der Grenze zu Serbien, ist zu einem Synonym für das geworden, was das UN-Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien und der Internationale Gerichtshof in Den Haag einen Völkermord genannt haben. Innerhalb weniger Tage massakrierten bosnisch-serbische Truppen rund 8000 muslimische Männer, zwölfjährige Burschen genauso wie fast 80-jährige Männer. Und nur ein Jahr nach dem Völkermord in Ruanda schauten die Vereinten Nationen zum zweiten Mal tatenlos dabei zu.

Vermeintliche Sicherheit. Dabei stand Srebrenica bis zum Sommer 1995 nicht für einen Massenmord, sondern gerade für Schutz und vermeintliche Sicherheit inmitten des Krieges, garantiert durch die internationale Gemeinschaft – auf dem Papier zumindest. Seit dem Frühjahr 1993 war Srebrenica mit der umliegenden Gegend eine von sechs UN-Schutzzonen im umkämpften Bosnien, eine bosnisch-muslimische Enklave mitten in einem von Serben kontrollierten Gebiet. Seitdem waren dort Friedenssoldaten der UN-Mission Unprofor stationiert, die für den Schutz der etwa 40.000 dort eingeschlossenen Flüchtlinge sorgen sollten. Ihr Hauptquartier lag in Potočari, fünf Kilometer von Srebrenica entfernt, auf einem ehemaligen Industriegelände. Dort befindet sich heute die Gedenkstätte für die Opfer des Völkermords. Jedes Jahr werden dort am Gedenktag, dem 11.Juli, noch immer Opfer beigesetzt.

Verantwortlich für die Schutzzone war ein niederländisches Bataillon, Dutchbat. Die Männer waren nur leicht bewaffnet; den Einsatz von Gewalt sah ihr Mandat ohnehin nicht vor, nur zur Selbstverteidigung durften sie schießen. Die Beobachterrolle der UNO entsprach dem damaligen Verständnis von Peacekeeping.

Bevor die Vereinten Nationen kamen, hatte den Schutz der Stadt ein anderer garantiert: Naser Orić, Polizist und Ex-Bodyguard, der die bosniakischen Kämpfer in Srebrenica kommandierte. In den Jahren 1992 und 1993 hatte er den Serben demütigende Niederlagen zugefügt. Augenzeugen schilderten schlimme Gräueltaten an serbischen Zivilisten. Als Srebrenica nach einer bosnisch-serbischen Gegenoffensive zu fallen drohte und die vielen muslimischen Flüchtlinge in der Stadt in Gefahr waren, kam die UNO ins Spiel: Der damalige UN-Kommandant, Philippe Morillon, reiste im März 1993 nach Srebrenica und hisste dort kurzerhand die blaue UN-Flagge. „Ihr seid jetzt unter dem Schutz der Vereinten Nationen“, erklärte er den verzweifelten Menschen. Der Sicherheitsrat nickte diese Entscheidung im April ab. So wurde Srebrenica zur Schutzzone – die erste überhaupt. Eine Waffenstillstandsvereinbarung, separat unterzeichnet, sah auch vor, die bosniakischen Kämpfer in der Zone zu entwaffnen. In Wahrheit landete nur ein kleiner Teil der Waffen bei den Blauhelmen, überwiegend kaputtes und unbrauchbares Material. Bosniakische Kämpfer blieben in der Stadt. Angriffe der bosnischen Muslime von der Schutzzone aus dienten dann auch den bosnischen Serben unter General Ratko Mladić als Argument, Srebrenica in ihre Gewalt zu bringen.

Zermürbungstaktik. Der Entschluss, die Enklave einzunehmen, fiel im Frühjahr 1995. Der bosnisch-serbische Präsident Radovan Karadžić gab Anfang März den Befehl, in der Schutzzone „durch gut geplante Kampfoperationen eine unerträgliche Situation der totalen Unsicherheit zu schaffen, ohne Hoffnung auf Überleben oder Leben für seine Bewohner“. Konvois mit Versorgungsgütern mussten durch bosnisch-serbisch kontrolliertes Gebiet – ihnen wurde die Durchfahrt verwehrt. Nicht nur den ohnehin Not leidenden Zivilisten in Srebrenica, auch den UN-Soldaten gingen auf diese Weise rasch die Vorräte aus – Lebensmittel, Medizin und Munition. Weil sie bald nicht mehr über Treibstoff verfügten, mussten sie ihre Patrouillen zu Fuß absolvieren. Blauhelmen, die die Zone verließen, wurde die Rückkehr in die Enklave verwehrt. So schrumpfte die Zahl der Friedenssoldaten von 600 auf 450.

Gegen die verängstigte UN-Truppe hatten die Serben ein leichtes Spiel. Ihre militärische Offensive, die am 6.Juli begann, traf auf keinerlei Widerstand – auch nicht durch bosniakische Truppen: Deren Kommandant Orić hatte die Schutzzone mit einigen seiner Männer bereits im Mai per Helikopter verlassen. Als im südlichen Teil der Enklave ein UN-Beobachtungsposten nach dem anderen fiel, forderte der UN-Kommandant in Potočari, Thomas Karremans, zwar Luftunterstützung der Nato an. Die Bitte wurde aber wiederholt abgelehnt: Man wolle die laufenden Friedensverhandlungen nicht gefährden. Nach einem missglückten Versuch, die bosnischen Serben durch Luftangriffe am Beschuss der Hauptstadt Sarajevo zu hindern, dominierten bei den Vereinten Nationen wieder jene Stimmen, die Gewaltanwendung vonseiten der Staatengemeinschaft unter allen Umständen vermeiden wollten, allen voran UN-Sonderbeauftragter Yasushi Akashi und Unprofor-Kommandant Bernard Janvier.

Den Blauhelmen blieb nichts anderes übrig, als ihre Posten zu räumen. Wer nicht fliehen konnte, ergab sich den bosnisch-serbischen Truppen. Rund 30 von ihnen befanden sich bei der Einnahme von Srebrenica am 11.Juli in den Händen von Mladićs Soldaten. Als niederländische Kampfflugzeuge viel zu spät bosnisch-serbische Stellungen bombardierten, reichte die Drohung aus, die Soldaten zu ermorden, um die Hilfe aus der Luft einzustellen.

In Todesangst strömten tausende Flüchtlinge zum UN-Stützpunkt nach Potočari. Als die Basis voll war, campierten die Menschen außerhalb des UN-Geländes in den angrenzenden Gebäuden, auf den Feldern. Am Abend des 11. Juli drängten sich dort fast 25.000 Menschen. Schon in Potočari kam es zu Misshandlungen, Vergewaltigungen, Morden durch bosnisch-serbische Soldaten. Trotzdem gaben UN-Kommandant Karremans und seine Truppe jeder Forderung von Mladić nach.

Unterwürfige UN-Soldaten. Die Blauhelme ließen zu, dass die Männer von den Frauen und Kindern getrennt wurden, unter dem Vorwand, man suche nach Kriegsverbrechern. Sie halfen den Serben, die Flüchtlinge abzutransportieren – die UN bezahlte sogar den Sprit. Während Frauen, Kinder und Alte in bosniakisches Gebiet nach Kladanj geschafft wurden, kamen die Männer im serbisch kontrollierten Bratunac wenige Kilometer nördlich von Srebrenica in Lager, dann zu den Stätten der Massenexekutionen. Der Mladić gegenüber sehr unterwürfig auftretende Karremans hielt es nicht für nötig, nach ihrem Verbleib zu fragen.

Viele Männer in Srebrenica wussten, dass sie nicht überleben würden, wenn sie bosnisch-serbischen Soldaten in die Hände fallen würden. Angeführt von bosniakischen Kämpfern entschieden sich daher mehr als 10.000 von ihnen nicht für das UN-Gelände in Potočari, sondern für die Flucht durch die Wälder Richtung Tuzla, in bosnisch-muslimisches Gebiet. Nur ein kleiner Teil schaffte es dorthin. Wer nicht schon auf dem Weg bosnisch-serbischen Angriffen zum Opfer fiel, wurde gefangen genommen, zu Sammelstellen geschafft und in den folgenden Tagen umgebracht.

Zwischen 12. und 17. Juli ermordeten die bosnisch-serbischen Kämpfer fast alle bosniakischen Männer, die ihnen in die Hände gefallen waren. Wie viele genau es waren, ist noch immer nicht bekannt, vermutlich zwischen 7800 und 8300 Menschen. Bisher hat man 7100 Opfer gefunden. Srebrenica gehört heute zum serbischen Landesteil von Bosnien-Herzegowina, der Republika Srpska. Die mutmaßlichen Hauptverantwortlichen der Massaker, Karadžić und Mladić, wurden erst viele Jahre später festgenommen. Ihre Urteile durch das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag stehen noch aus.

Fakten

Nach der Einnahmeder UNO-Schutzzone Srebrenica durch bosnisch-serbische Truppen am 11. Juli 1995 wurden rund 8000 bosniakische Männer und Burschen vor den Augen der dort stationierten niederländischen Blauhelme aussortiert, um in der Umgebung der Stadt brutal ermordet zu werden.

Die Leichen der Opfer– wobei nach etwa 1200 weiterhin gesucht wird – wurden nach dem dreijährigen Krieg (1992-1995) in 76 Massengräbern und an 150 anderen Stellen gefunden. Die gesamte Opferzahl beläuft sich auf 8372. Nach Angaben der bosnischen Behörden waren 550 im Juli 1995 noch minderjährig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2015)

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