Srebrenica: Die Stadt, die nur wegen der Toten lebt

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Seit zwei Jahrzehnten ist Srebrenica das Synonym für das schlimmste in Europa begangene Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg. Der ostbosnische Ort bleibt trotz Hilfsgelder eine entvölkerte Schattenstadt.

Srebrenica. Die Stadt ist für ihre geschrumpfte Bevölkerung zu groß geworden. Leere Fensterhöhlen gähnen in Srebrenica in nie wieder aufgebauten Kriegsruinen. „Zu verkaufen“ lautet die Botschaft, die selbst in den dunklen Fenstern renovierter Häuser an der Marschall-Tito-Straße prangt.

Ein einsamer Gast nippt auf der Terrasse des Cafés des Kulturzentrums an seinem Bier. Die Tür des Jugendzentrums ist genauso verriegelt wie die des Verbands der Serben und der mit Moos überzogene Eingang der Discothek Acapulco. Srebrenica sei eine „verlassene und leere Stadt“, sagt achselzuckend Avdo Purković, Eigentümer der Pansion Misirlije. „Ich kann mich nur wegen des Gedenkfriedhofs halten und der Menschen, die ihn besuchen. Es gibt kein Leben mehr in Srebrenica.“

Zwischen den endlosen Reihen weißer Grabstelen betet ein alter Mann mit erhobenen Händen für seinen verlorenen Sohn. Unter Führung von General Ratko Mladić waren bosnisch-serbische Truppen am 11. Juli 1995 nach über zweijähriger Belagerung in die von den überforderten Blauhelmen der niederländischen UN-Einheit Dutchbat kampflos preisgegebene muslimische Enklave einmarschiert.

Nur Frauen und kleine Kinder durften Srebrenica in eskortierten Buskonvois verlassen. Ihre Söhne und Brüder, Männer und Väter blieben zurück. Bei Massenexekutionen wurden in den folgenden Tagen selbst Jugendliche und Greise in den umliegenden Wäldern ermordet – und in Massengräbern verscharrt. Nur wenigen sollte die Flucht nach Tuzla gelingen. „8732 kamen nicht an“, erinnert ein Plakat im Gedenkzentrum von Potočari an die Opfer.

Männer heben neue Gräber aus

Vor 20 Jahren hatte die Verkäuferin des kleinen Souvenirladens am Gedenkfriedhof ihren von der Familie getrennten Vater zum letzten Mal gesehen: „Er war 50 Jahre alt. Mein jüngster Verwandte, der auf dem Friedhof liegt, war gerade mal 13.“ Als „nicht gut und nicht schlecht“, umschreibt die blonde Frau das heutige Verhältnis zwischen Muslimen und Serben in ihrer Stadt. „Normale Leute“ kämen problemlos miteinander aus: „Aber die Politiker sind es, die in Bosnien die Beziehungen vergiften. Das fällt leichter in einer Gesellschaft, in der fast alle vom Existenzminimum leben.“ Das Leben in ihrer Stadt werde wohl nie mehr so werden, wie es einmal war, sagt sie leise beim Abschied: „Wer kein Geld hat, lädt seinen Nachbarn auch nicht mehr zum Kaffee ein – und verkriecht sich allein zu Hause.“

In der Mittagshitze heben Männer neue Gräber aus. Auch 20 Jahre nach Europas schwerstem Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg werden in Srebrenica noch immer die Toten begraben. 6241 der Opfer haben auf dem Gedenkfriedhof von Potočari bisher ihre letzte Ruhestätte gefunden. Am 20. Jahrestag sollen am Samstag die identifizierten Überreste von weiteren 136 Personen endlich bestattet werden. Erschwert wird die mühsame Suche nach den noch Vermissten durch die hektische und mehrfache Umbettung der Massengräber, mit der der Genozid vertuscht werden sollte. Viele der zerfallenen Skelette wurden darum über mehrere Massengräber verteilt gefunden.

Längst zählt die Stadt mit dem Kainsmal des Verbrechens mehr Gräber als Menschen. Vor dem Krieg galt Srebrenica dank der Edelmetallvorkommen, der holzverarbeitenden Industrie und der Heilquelle als einer der reichsten Kommunen Bosniens. Zählte die Kommune damals insgesamt über 36.000 Menschen, ist deren Zahl mittlerweile auf unter 7000 geschrumpft. In der entvölkerten Stadt selbst leben nach unterschiedlichen Schätzungen nur noch 1000 bis 3000 von einst 10.000 Menschen. „Die Stadt, die nur wegen der Toten an einem Tag im Jahr lebt“, titelt vor dem Jahrestag die Zeitung „Dnevni Avaz“.

Suche nach Investoren

Ein vergilbtes Schild am verwahrlosten Spielplatz verweist auf dessen Sponsor. Allein aus den Niederlanden soll in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein dreistelliger Millionenbetrag an Spendengeldern geflossen sein. Wo diese verblieben sind, weiß niemand. „Wenn alle Hilfsgelder für Srebrenica hier angekommen wären, hätten wir heute Vollbeschäftigung – und keine Arbeitslosen“, seufzt im Rathaus der Wirtschaftsberater Cazim Salimović: „Doch die Gelder flossen über Sarajewo – und der Großteil blieb auch dort hängen.“

Leere Fabrikshallen künden am Ortsausgang von den besseren Tagen der Stadt. Srebrenica stehe beim mühsamen Buhlen um Investoren zumindest noch etwas besser da als andere Kommunen in dem von hoher Arbeitslosigkeit und starker Emigration geplagten Ostbosnien, versichert Salimović. Immerhin sei zuletzt die Ansiedlung zweier neuer Betriebe zur Herstellung von Holzpellets und Pommes frites geglückt. Jeder neue Betrieb auch mit nur 20 bis 30 Arbeitsplätzen bedeute sehr viel: „Die Lage ist nicht gut, aber es gibt kleine Schritte vorwärts.“

Ausgerechnet der bosnischen Serbenrepublik, deren Armee das Massaker verübte, wurde beim Friedensabkommen von Dayton die einstige Muslim-Enklave zugeschlagen. Die Entwicklung von Srebrenica hat für die Regionalregierung im fernen Banja Luka keine Priorität: Manche Muslime werfen ihr gar eine bewusste Behinderung der Entwicklung der Stadt zugunsten des benachbarten Bratunac vor. Jede konstruktive Idee, die das Leben in Srebrenica verbessern könne, werde von der Politik „torpediert“, erregt sich Purković.

Von geglückter Versöhnung kann 20 Jahre nach dem Massaker keine Rede sein. Die Muslime ärgern sich nicht nur über die vor dem Jahrestag vermehrt in der Stadt auftauchenden Plakate mit dem Konterfei von Russlands Präsidenten, Wladimir Putin, die für „die östliche Alternative“ werben: Bildnisse des mittlerweile vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal stehenden Ratko Mladić hängen im nahen Bratunac noch stets an serbischen Wirtshaus- und Wohnzimmerwänden. Umgekehrt wird der Kindergarten in Srebrenica derzeit von serbischen Eltern wegen des Kopftuchs einer muslimischen Betreuerin boykottiert. In der Kirche würden die Serben immer noch die Kriegslieder der Tschetniks anstimmen, klagt an der Hauptstraße eine Frau. Ohne serbische Tschetniks und islamistische Wahhabiten wäre das Leben in Bosnien „sicher einfacher“: „Was wir hier brauchten, wäre endlich die Zukunft – und nicht immer wieder den destruktiven Blick zurück.“

AUF EINEN BLICK

Am 11. Juli wird zum 20. Mal des Massakers von Srebrenica gedacht. Damals ermordeten bosnisch-serbische Milizen mehr als 8700 muslimische Männer und Buben. Zur Gedenkfeier wird dieses Jahr der serbische Premier, Aleksander Vučić, anreisen. Es sei „Zeit zu zeigen, dass wir bereit zur Aussöhnung sind, dass wir bereit sind, uns vor den Opfern zu verneigen“, sagte er.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2015)

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