Das Mittelmeer als Fluchtweg und als Massengrab

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Bisher sind 2015 rund 2000 Flüchtlinge beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ertrunken.

Der Notruf ging in den frühen Morgenstunden ein: Ein überfülltes Flüchtlingsboot sei 25 Kilometer von der libyschen Küste entfernt bei starkem Seegang in Seenot geraten. Die irische LÉ Niamh war eines der ersten Schiffe, die das Fischerboot erreichten. Erst dann kam es binnen weniger Minuten zur eigentlichen Katastrophe, der die anwesenden Helfer zusehen mussten: Als das irische Schiff näher kam, bewegten sich die verängstigten Menschen an Bord des Flüchtlingsboots auf eine Seite. Das Boot kenterte. Flüchtlinge, die sich an Deck befanden, wollten sich durch Sprünge ins Wasser retten. „Menschen versuchten, sich verzweifelt an irgendwelchen Dingen im Wasser festzuklammern, um zu überleben“, berichtet ein Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen (MFS), deren Boot Dignity ebenfalls rasch vor Ort war.

Die Suche nach Überlebenden ging am Donnerstag weiter, sie sollten in die sizilianische Hafenstadt Palermo gebracht werden. Wahrscheinlich sind mehr als 200 Menschen ertrunken. Nach Angaben der italienischen Küstenwache vom Donnerstag befanden sich 600 Menschen an Bord. Mehr als 370 Menschen seien gerettet worden. 25 Leichen wurden geborgen. Die ganze Nacht über haben die italienische und die irische Marine sowie ein Schiff der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen vergeblich nach weiteren Leichen gesucht. Etliche Helikopter waren ebenfalls vor Ort. Am Morgen wurden zwei weitere Flüchtlingsboote in dem Gebiet gesichtet.

An Bord des Unglücksbootes waren nach Angaben der Küstenwache vor allem Menschen auf der Flucht vor dem syrischen Bürgerkrieg. Ursprünglich war von rund 700 Flüchtlingen die Rede. Doch nach Befragung von Überlebenden senkten die italienischen Behörden ihre Schätzung.

„Europäische Lösung“ gesucht

Tragödien wie jene vom Mittwoch ereignen sich im Mittelmeer viel zu oft: In diesem Jahr sind bisher mehr als 2000 Flüchtlinge bei dem Versuch ertrunken, nach Europa zu gelangen. Im gesamten vergangenen Jahr waren es nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 3279. Im April war ein Schiff mit 800 Flüchtlingen gekentert, danach stockte die Europäische Union die Mittel für die Seenotrettung im Mittelmeer im Rahmen des EU-Grenzüberwachungsprogramms Triton deutlich auf. Die LÉ Niamh ist übrigens für Triton im Einsatz.

Die Europäische Union sucht seit Langem nach Lösungen: „Es ist klar, dass wir einen neuen und europäischeren Ansatz brauchen“, erklärten EU-Kommissionsvize Frans Timmermans, die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, und der für Flüchtlinge zuständige EU-Kommissar, Dimitris Avramopoulos, am Donnerstag. Die EU arbeite hart daran, solche Tragödien zu verhindern und habe die Mittel für die Seenotrettung verdreifacht, sagte EU-Kommissionssprecherin Natasha Bertaud. Seit Anfang Juni dieses Jahres seien über 50.000 Menschen gerettet worden. Doch obwohl die Zahl der auf hoher See Ertrunkenen zurückging, sei dies nicht genug.

Die Rettungsaktionen seien nötig, weil eine kollektive europäische Politik im Bereich Migration zu kurz greife. Es gebe keine einfachen Antworten, auch könne kein Land allein die Herausforderungen wirksam bewältigen. Die EU arbeitet an einem Vorschlag für die verpflichtende Verteilung von Flüchtlingen. Österreich war zuletzt gegen solch eine Quotenregelung.

Syrer nehmen Griechenland-Route

Die Hauptlast des Flüchtlingsansturms nach Europa tragen Griechenland und Italien: Seit Anfang des Jahres haben 90.532 Menschen das Mittelmeer mit dem Ziel Griechenland überquert. Die meisten Flüchtlinge kommen aus Syrien, an zweiter und dritter Stelle der Hauptherkunftsländer folgen Afghanistan und Eritrea.

Die Mehrheit der Migranten, die 2015 über das Mittelmeer Italien erreichten, stammt aus Eritrea (26.715 Menschen), wie das italienische Innenministerium am Donnerstag bekannt gab. Zweitgrößte Gruppe waren 2015 bisher Nigerianer (12.009 Menschen), gefolgt von Somaliern (7629) und Sudanesen (5704). Stark zurückgegangen ist hingegen die Zahl der Syrer. Diese machten 2015 lediglich 5593 Migranten aus, während sie 2014 mit 42.323 Personen noch die stärkste Gruppe in Italien stellten. Denn sie versuchen angesichts der verstärkten Kontrollen in und vor Italien nun, via Griechenland nach Europa zu gelangen. (ag./zoe)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2015)

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