Max und Moritz: Ritzeratze voller Tücke - in die Idylle eine Lücke

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Habt ihr gedacht, die sind perdu? Aber nein: Jetzt feiern sie: 150 Jahre Max und Moritz. Wie zwei "böse Buben" für ihre Streiche büßten und daraus ein abgründiger Kinderbuchklassiker wurde.

Ach, dass der Mensch so häufig irrt und nie recht weiß, was kommen wird“, hätte Wilhelm Busch wohl gespottet, wenn er das Missgeschick der Journalisten im 150. Jubiläumsjahr seiner genialen Lausbubengeschichte „Max und Moritz“ miterlebt hätte.Irgendwie will ja jede Zeitung die erste sein, die eine Gedenknachricht bringt, noch dazu ist diese Bildgeschichte im deutschen Kulturgut verankert wie Goethes „Faust“. Aber warum erschienen Anfang April 2015 in so vielen Medien „Max und Moritz“-Artikel, obwohl in jeder seriösen Busch-Biografie nachzulesen war, dass die Zeichnungen im August 1865 in die Druckerei und erst im Oktober an die Öffentlichkeit gelangten? Woher stammte die Falschinformation? Aus Wikipedia, dem beliebten Wissens-Pool für zeitgestresste Medienleute. Dort stand – völlig aus der Luft gegriffen – als Erscheinungsdatum 4. April 1865, von hier gelangte es in die Termin- und Jahrestaglisten der Verlage, es wurden Interviews vorbereitet, Artikel erschienen.

Die Busch-Forscher wunderten sich: Keiner stellte die Fehlinformation in Frage, die Korrektur in Wikipedia erfolgte am 8. März, doch zu spät. Die Maschinerie der Meldungen und Würdigungen war bereits angelaufen, die Titel („Der erste Comic Strip“) bereits eingeplant. Buschs Biografin Gudrun Schury resümiert abgeklärt: „Nun ja, in gewisser Weise ist das ganze Jahr 1865 ein Max-und-Moritz-Jahr, denn damals stellten Wilhelm Busch und sein Verlag die Bildergeschichte fertig.“

 „Mädchen, – spricht er – sag mir ob –/Und sie lächelt: Ja, Herr Knopp!“ Zärtlicher Beginn, aber daraus entsteht eine Spießerehe. Buschs Eheversuche scheiterten allesamt.
„Mädchen, – spricht er – sag mir ob –/Und sie lächelt: Ja, Herr Knopp!“ Zärtlicher Beginn, aber daraus entsteht eine Spießerehe. Buschs Eheversuche scheiterten allesamt.

„Ach, was muss man oft von bösen Kindern hören oder lesen!“ Im Brustton der Empörung wird uns die Moritat von den beiden Lausbuben präsentiert. Die „bösen Kinder“, die pädagogisierenden Warn- und Unglücksgeschichten, gehörten seit dem 18. Jahrhundert zum festen Repertoire der Kinder- und Jugendliteratur. Es ist kein Zufall, dass Max und Moritz in Form eines gezeichneten Steckbriefs vorgestellt werden. Diese Fahndungsmethode war im 19. Jahrhundert beliebt, nicht nur Räuber oder betrügerische Vagabunden wurden so gesucht, auch streunende Kinder, die die Schule oder Kirche mieden, wurden so an den Pranger gestellt. Doch das von Busch geliebte „Ach“ zu Beginn macht stutzig: Versteckt sich dahinter Ironie, ja gar Distanz gegenüber denen, die unter den Streichen der beiden „Bösewichte“ litten? Und den beiden pausbäckigen Buben, Max und Moritz, die den Leser freundlich anlächeln, steht ins Gesicht geschrieben: Sie sind keine Kinder von Traurigkeit, scheinen kein schlechtes Gewissen zu haben, obwohl sie mit sieben üblen Streichen ihrer dörflichen Umgebung schlimm mitspielen. Offen und hemmungslos lachen die beiden Anarchisten, wenn ihnen ein Streich gelungen ist und sich die engstirnigen Philister und Spießbürger in der Dorfgemeinschaft ärgern.

Triumph der braven Bürger

Nach jedem Streich feiern die beiden Normbrecher hemmungslos ihre Taten: Welches Kind soll sich dadurch vom falschen Weg ablenken lassen? Doch da gibt es ja noch den Schluss, den Triumph der braven Bürger, die die beiden Übeltäter ins Jenseits befördern. Aber das Vergnügen über die gelungenen Anschläge auf Normen und Autoritäten ist bis dahin so groß und die Todesstrafe ist so surreal inszeniert (die beiden werden in einer Mühle zerkleinert und zerrieben), dass kein Kind deswegen Alpträume bekommt. „Erwachsene tendieren dazu, Kinder für naiv und dumm zu halten, man kann Kindern ruhig auch einmal zutrauen, sich mit einer Geschichte, die nicht idyllisch ist, autonom auseinanderzusetzen.“ (Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer im „Falter“-Interview).

Die Geschichten sind eben keine realistischen Gewaltphantasien, die Kindern Angst machen können, sondern sind durch die grafische Form „derealisiert“ und damit genussfähig geworden.Auch Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“-Geschichten arbeiten mit diesem Trick: Durch surreale karikaturistische Übertreibung und sarkastisch-komische Knittelverse wird die radikal-moralische Botschaft konterkariert und in den jungen Lesern bleibt die Freude an den bunten Bildern, zumal Busch die Erwachsenen gerne als Spottgeburten sondergleichen zeichnet: Allesamt sind sie entweder fett oder im Gegenteil spindeldürr mit völlig verzwirbelten Beinen.

Das gefällt nicht nur jungen Lesern: Harry Potter ist nicht das erste literarische Beispiel für All-Age-Literature und Crossreading. Erwachsene werden durch die lustige Brutalität und begründungslose Angriffslust auf die Mitwelt an die Tradition subversiver Komik erinnert, wie sie in den alten Slapstickfilmen auftrat, wo es vorkommen konnte, dass Charlie Chaplin seinem Widerpart in die Nase biss.

Die würdige Schwester von „Max und Moritz“ ist „Die fromme Helene“, eine zynische Geschichte von Scheinheiligkeit und Bigotterie, die wie oft bei Wilhelm Busch letal endet.
Die würdige Schwester von „Max und Moritz“ ist „Die fromme Helene“, eine zynische Geschichte von Scheinheiligkeit und Bigotterie, die wie oft bei Wilhelm Busch letal endet.

Durch das rasante Erzähltempo wird man wie in einem Film in den Text hineingezogen: „Dieses war der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich!“. Da steigt keiner bei der Lektüre aus. Die Gesamtauflage wird auf 20 Millionen Exemplare geschätzt, Übersetzungen gibt es etwa 300, zuletzt auch ins Arabische. So kann man also auch in Ländern, wo den Menschen das Böse noch heute mit Peitschenhieben und dem Henkersbeil ausgetrieben wird, die Moritat lesen. Im Unterschied zu Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“, dem zweiten Kinderbuchklassiker des Jahres 1865, spielt Wilhelm Buschs Dorfgeschichte von den beiden bösen Buben nicht in einem fiktiven Fantasiereich. Witwe Bolte und Schneidermeister Böck haben Bezug zu realen Personen aus Buschs Biografie. Die Kinder herumziehender Zigeuner machten sich mit ausgeklügelten Tricks auf die Hühnerjagd,das kannten viele Bauern aus leidvoller Erfahrung. Dass Schneider gerne verspottet wurden und in der gesellschaftlichen Hierarchie weit unten rangierten, ist bekannt. Viele von ihnen waren aus dem Osten zugewandert, wurden oft fälschlicherweise als Juden angesehen, man sagte ihnen nach, mit dem Teufel in Verbindung zu stehen und Ziegen für ihre Gelüste zu missbrauchen. Daher der Name „Böck“ und das freche „meck, meck, meck“ der beiden Bad Boys, das an den antisemitischen Spottruf „Hep, hep, hep“ erinnert.

Mitleid mit Lämpel?

 „Es saust der Stock, es schwirrt die Rute“: Bei Busch wird man „durch die Kinderjahre hindurchgeprügelt“.
„Es saust der Stock, es schwirrt die Rute“: Bei Busch wird man „durch die Kinderjahre hindurchgeprügelt“.

Soll man mit Lehrer Lämpel, der beim anarchistischen vierten Streich in die Luft gesprengt wird und verkohlt, Mitleid haben? Einerseits steht er für die überstrenge Autorität des Dorflehrers, für körperliche Züchtigung und Erziehung mit übertriebener Grausamkeit, wofür ihn die Kinder hassten. Andererseits besaßen die Pädagogen des 19. Jahrhunderts ein niedriges Sozialprestige, wurden schlecht bezahlt und verdienten sich ein Zubrot etwa als Organisten bei den Gottesdiensten. Der Bauer zuletzt, dessen Rohheit und Brutalität die beiden Buben nicht gewachsen sind, kaschiert schließlich seine Bosheit nicht wie die anderenspießbürgerlichen Dorfbewohner, wenn er seinen Rachefeldzug beginnt und die Übeltäter in der Mühle zerreiben lässt, getreu dem Erziehungsmotto der Zeit: „Der natürliche Mensch muss zerkleinert und zerrieben werden, um in der Sozialität zu funktionieren.“ (Zeitgenössische Pädagogiklehre).

Was macht Wilhelm Busch hier eigentlich mit der Pädagogik der Zeit, mit ihrem Prinzip „Kindheit muss, wie Natur, verschwinden, wo Erwachsenheit und Kultur entstehen soll“? Inflationär ist die Darstellung böser Kinder in der Literatur seit der Aufklärung, Kinderbuchautoren waren Handlanger der zeitgenössischen Pädagogik. Böse, schwererziehbare, ungezogene Kinder mussten gezüchtigt werden, Problemkinder, die aufgrund ihres schlechten Verhaltens aus der Rolle fallen, grausam bestraft werden. Mit dieser pädagogischen Tradition spielt Wilhelm Busch in den einleitenden mahnenden Worten und anhand des Exempels, das zuletzt an den Übeltätern statuiert wird. Da wird der abschreckende Schein aufrechterhalten.

 In „Der heilige Antonius von Padua“ erscheint die Versuchung für den frommen Mönch als Mädchen vom Ballett. Der Heilige reagiert zunächst abwartend, er genießt den Flirt eine Weile und wendet sich dann ab. Wilhelm Busch, der Antiklerikale, wird deshalb vor Gericht geladen.
In „Der heilige Antonius von Padua“ erscheint die Versuchung für den frommen Mönch als Mädchen vom Ballett. Der Heilige reagiert zunächst abwartend, er genießt den Flirt eine Weile und wendet sich dann ab. Wilhelm Busch, der Antiklerikale, wird deshalb vor Gericht geladen.

Doch dazwischen? Der Autor und mit ihm der Leser scheint mit jedem Streich, der in die bürgerliche Behaglichkeit einschlägt, mehr und mehr mit den Bengelnzu sympathisieren und in einen unanständigen Einklang zu geraten. Immer mehr entlarvt sich das Einverständnis des Autors mit den Moralprinzipien der Zeitals künstliche Fassade. Eine frühe Bildgeschichte von Wilhelm Busch („Der kleine Pepi mit der neuen Hose“) demonstriert bereits, dass mit Moral der Vitalität von Kindern nicht beizukommen ist. Symbol für diesen Lebenshunger ist die maßlose Essgier von Max und Moritz. Sie wirken auch gar nicht ausgehungert, wie viele Dorfkinder aus armen Verhältnissen im 19. Jahrhundert. Schon Martin Luther wusste, dass Kinder ohne Erziehung „eitel wilde Tiere und Säu in der Welt sind, die zu nichts zu nutze sind denn zu fressen und saufen.“ Fressen und Gefressen werden erweisen sich als durchgehendes Motiv, bis zum bösen Ende in der Mühle.

Das vernachlässigte Kind

Besorgte Pädagogen rangen die Hände. Wie sehr diese Geschichte gegen den Geist der Zeit geschrieben ist (lange Zeit wurde sie geächtet), wird klar, wenn man sieht, dass Max und Moritz anscheinend ohne elterliche Fürsorge aufwachsen, Vater und Mutter sind nicht erwähnt. Wilhelm Busch hatte einen dunklen Punkt in seiner Biografie: Die mangelnde Fürsorge seiner Eltern, die er dafür verantwortlich machte, dass er es nicht zu einem ordentlichen Beruf brachte. Germanisten haben daher die gewaltsam-unterhaltsame Geschichte als Widerspiegelung einer traurigen Biografie und „ins Schreckliche und zugleich Komische gesteigerte Straffantasie eines versagenden Sohnes“ interpretiert (Jana Russ). Hinter dem Mantel der Komik habe er nicht nur die Moral und Ideale der Pädagogik seiner Zeit, sondern auch die eigenen schlechten Lebenserfahrungen versteckt.

Bei Max und Moritz ist eine Bekehrung im Sinne eines Erziehungsprogramms nicht vorgesehen. Es triumphiert die reine „Übeltätigkeit“. Ihre Revolte gegen die Ruhe der Spießer hat natürlich auch in der 68-er Generation seine Spuren hinterlassen, in Robert Gernhardts Ballade „Das Attentat oder Ein Streich von Doris und Pat“: Gernhardts „böse Mädchen“ sind zwei Frankfurter Studentinnen, die Theodor W. Adorno 1969 bei einer Vorlesung mit ihren entblößten Busen provozieren, dann aber einen erfolgreichen Anpassungsprozess durchlaufen: „Die eine forscht, die andre lehrt, und beide sind gottlob bekehrt von den Ideen ihrer Jugend.“ Max und Moritz passen sich den „weisen Lehren“ der Gesellschaft nicht an, da sind sie lieber „perdu“.

Klassiker

Das haben sonst nur Goethe und Schiller geschafft: Wilhelm Buschs Zitate wurden Bildungsgut.


„Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör.“


„Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr.“


„Aber hier wie überhaupt, kommt es anders als man glaubt.“


„Drei Wochen war der Frosch so krank! Jetzt raucht er wieder, Gott sei Dank!“


„Musik wird oft nicht schön gefunden, weil stets sie mit Geräusch verbunden.“


„Jeder Jüngling hat nun mal, 'nen Hang zum Küchenpersonal.“

„Einszweidrei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2015)

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