Das nächste Pulverfass?

Im Libanon gärt es wieder. Proteste richten sich gegen eine unvermögende Regierung, doch die hat Fürsprecher im Ausland.

Seit der Konflikt in Syrien eskaliert ist, warten viele Beobachter auf den wirtschaftlichen und politischen Kollaps des Libanon: Das Land mit 4,5 Millionen Einwohnern hat etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Aber ein solcher Kollaps würde das fragile Gleichgewicht zwischen den Bevölkerungsgruppen in dem Land zerstören, und nach 25 Jahren Waffenstillstand könnte der Bürgerkrieg wieder ausbrechen.

Die Demonstrationen tausender Libanesen gegen ihre Regierung in den vergangenen Tagen sind hingegen eine erfreuliche Entwicklung. Denn die Empörten scheinen aus sämtlichen Religionsgruppen und sozialen Schichten zu kommen. Gemeinsam fordern sie eine Regierung, die sich tatsächlich der Probleme des Landes annimmt. Eine solche Regierung hat es seit 2005 nicht mehr gegeben.

Seit im Juli eine wichtige Mülldeponie des Landes zugesperrt wurde, sind die Unzulänglichkeiten der ohnehin kaum funktionierenden Abfallversorgung im ganzen Land offenkundig geworden. Doch die Debatte zur Lösung des Müllproblems im Parlament wurde verschoben – zugunsten einer von Regierungsmitglied Michael Aoun angestrebten Sitzung, bei der sein Schwiegersohn im Amt bestätigt werden sollte. Das brachte das Fass zum Überlaufen: 15.000 Menschen strömten aus dem ganzen Land nach Beirut, um ihren Unmut über Korruption und die Vetternwirtschaft ihrer traditionell unvermögenden Regierungen kundzutun.

Obwohl der Libanon relativ wohlhabend ist, werden grundlegende Infrastrukturen für die Abfallentsorgung, Wasser- und Stromversorgung nicht in angemessener Form zur Verfügung gestellt. Nicht nur in Beirut, im ganzen Land fanden deshalb Proteste statt.

Einflussreiche Familienclans

Im libanesischen Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 entfremdeten sich die Bevölkerungsgruppen, entlang ihrer Religionszugehörigkeit, voneinander – vor allem Sunniten, Schiiten, Christen und Drusen. Seither wird die Verteilung von Regierungsämtern nach der Konfessionszugehörigkeit geregelt. Da auch die meisten Parteien konfessionell geprägt sind, gestalten sich Verhandlungen zur Regierungsbildung zumeist sehr langwierig; die gegenwärtige Regierung wurde nach gescheiterten Koalitionsverhandlungen vorübergehend eingesetzt. Dazu kommen die Eigeninteressen der Familienclans der außergewöhnlich großen libanesischen Elite. Diese Clans nutzen oft das Misstrauen zwischen den Religionsgruppen für ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Zwecke aus.

So geht es bei den derzeitigen Protesten um ein Ende des ungerechten Systems, das die schwelenden Konflikte nährt und von ihnen profitiert. Doch die USA, der Iran und zahlreiche arabische Staaten befürchten eine politische Krise und stellen sich hinter die libanesische Regierung.

Einmal mehr steht in einem Land des Nahen Ostens also die Forderung nach Stabilität der Forderung nach Gerechtigkeit gegenüber. Dabei würde allein schon die Umsetzung der derzeitigen Hauptforderung nach Gerechtigkeit mehr Stabilität versprechen als das bisherige Herrschaftssystem, das die ausländischen Mächte unbedingt erhalten wollen.

Maximilian Lakitsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Außenpolitik

Libanon: Der gelähmte Zedernstaat

Im Land mit den weltweit meisten Flüchtlingen pro Einwohner geht nichts mehr. Libanons Politik ist gelähmt, der Müll stapelt sich. Nun entlädt sich die Wut der Bürger.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.