Libanon: Der gelähmte Zedernstaat

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Im Land mit den weltweit meisten Flüchtlingen pro Einwohner geht nichts mehr. Libanons Politik ist gelähmt, der Müll stapelt sich. Nun entlädt sich die Wut der Bürger.

Beirut/Wien. Ein paar Kilometer südlich von Beirut liegt an den Ausläufern des Libanongebirges die größte Mülldeponie des Landes. Seit Wochen steht sie still – so wie die Politik. Denn dass die notorisch überfüllte Anlage geschlossen würde, war lang bekannt. Weil sich die Parteien aber auf keinen neuen Standort einigen konnten, begann sich der Müll in Beirut zu stapeln. Binnen Tagen säumten 20.000 Tonnen Abfall die Straßen. Ein bestialischer Gestank legte sich über weite Teile der Hauptstadt, die in besseren Tagen als „Paris des Orients“ umschmeichelt wurde. Bald zündeten die Ersten den Müll an. Nach etwa zwei Wochen holten die Behörden den Abfall dann doch ab (zumindest in Beirut), in Ermangelung legaler Deponien landete der Müll aber dort, wo eben Platz war. Nahe dem Airport zum Beispiel. Oder am Hafen.

Der Zedernstaat scheitert an der Grundversorgung seiner Bürger. Von der Müllabfuhr bis zur Wasserbereitstellung: Überall krankt es. Noch ein Vierteljahrhundert nach Ende des Bürgerkrieges gibt es in ärmeren Regionen nur ein paar Stunden Strom am Tag, ansonsten wummern die Aggregate. Und nun entlädt sich die aufgestaute Wut der Bürger an dem bildhaftesten Auswuchs der politischen Lähmung: den Müllbergen eben.

„Unfähig, Entscheidungen zu treffen“

„Ihr stinkt“, nennt sich in Referenz auf die Abfallkrise die Online-Gruppe, die Proteste in Beirut orchestriert. Mehr als 20.000 Menschen sollen am Sonntag ins Zentrum geströmt sein. „Sie kamen zum ersten Mal seit Jahren aus allen religiösen Lagern, Berufsgruppen und Regionen“, wie die Expertin Maha Yahya vom Carnegie Middle East Center der „Presse“ sagt. In den Protesten würde sich der Frust über die Verantwortungslosigkeit und Korruption der Politiker Bahn brechen. „Die Flüchtlingskrise ist kein Thema“, sagt die Expertin. Berichten zufolge hallten Sprechchöre wie „Wir wollen den Sturz der Regierung“ über den Riad-el-Solh-Platz.

Die Polizei antwortete mit einer Absperrung aus Nato-Draht und dem Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern. 200 Vermummte sollen dann am Sonntagabend die zunächst friedlichen Proteste gekapert, Steine und Molotowcocktails auf die Polizisten geworfen haben. Die Organisatoren glauben an Agents provocateurs. Eine Österreicherin in Beirut sagte zur „Presse“, sie habe am Sonntag gegen 21 Uhr Schüsse gehört.

Medienberichten zufolge wurde bei den Zusammenstößen ein junger Demonstrant getötet, die Regierung bestreitet das. Es gab jedenfalls mehr als 400 Verletzte. Eine Kundgebung am Montag wurde wegen der Gewalt verschoben. Die Ruhe vor dem Sturm. „Es geht um viel mehr als die Müllkrise“, räumt Premier Tammam Salam ein. „Weil wir unfähig sind, Beschlüsse zu fassen, können wir womöglich auch den größten Teil der öffentlich Bediensteten bald nicht mehr bezahlen.“ Der Regierungschef hat seinen Rücktritt erwogen. Einen Nachfolger würde es nicht geben. Der Premier wird vom Präsidenten ernannt, doch das höchste Amt im Staat ist seit mehr als 450 Tagen vakant. Das hat es nicht einmal während des Bürgerkriegs gegeben, der im Zedernstaat von 1975 bis 1990 wütete. „Jetzt benehmen sich die Minister, als wäre jeder von ihnen selbst der Präsident“, sagt Expertin Yahya. Und im Parlament gibt es weder für die Wahl eines Staatschefs noch andere zentrale Beschlüsse eine Mehrheit. Zugleich hat die Majorität die Verlängerung der Mandate beschlossen – von vier auf acht Jahre bis 2017. Eigentlich hätten sie 2013 wählen sollen.

Längst ist der Libanon auch in den Sog des Syrien-Kriegs geraten. Die schiitische Hisbollah kämpft mit Elitetruppen des schiitischen Iran an der Seite des Assad-Regimes, während sunnitische Gruppen um die Allianz des 14. März offen die Rebellen unterstützen.

Doch die religiöse Spaltung ist oft mit allzu persönlichen Machtinteressen verwoben. Das Präsidentenamt etwa steht im Libanon mit seinem fragilen Gleichgewicht der Religionen einem Christen zu. Nun streiten Michel Aoun und Samir Geagea um das Amt, beide mit dunkler Vergangenheit im Bürgerkrieg, an dessen Ende sie einander bekämpft haben. Während Aoun auf die Unterstützung des Pro-Assad-Lagers baut, unterstützt die sunnitische antisyrische Koalition Geagea.

Das Machtvakuum kommt zur Unzeit: 1,17 Millionen syrische Flüchtlinge drängen sich im Libanon, der nicht größer als Oberösterreich ist. Das lastet schwer auf der Infrastruktur. Wegen der Nachfrage nach Wohnraum schießen die Mieten in die Höhe, während die Löhne sinken. Eine politische Lösung dafür ist freilich nicht in Sicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2015)

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