Filmfestspiele Venedig: Die Schattenseiten der Bequemlichkeit

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Der Wettbewerb unterlag qualitativ wilden Schwankungen: Ein kraftvolles Kunstwerk wie „Behemoth“ konkurrierte hier mit öder Arthaus-Einheitsware,zerfahrenen Regionalproduktionen.

Was die Kinomostra ihren A-Festival-Geschwistern Cannes und Berlin unleugbar voraus hat, ist das entspannte Ambiente: Die wohltuende Grundgelassenheit am Festivalgelände streichelt die Nerven zwischen Filmvorstellungen. Besonders im Vergleich zum Starrummel und Jetset-Pandämonium an der Côte d'Azur erscheint der Lido als Dolce-far-niente-Paradies. Während sich etwa die Croisette zu Festspielstoßzeiten verlässlich in ein von Luxuskarossen und Menschenmassen verstopftes Dauerstaugebiet verwandelt, macht der Lungomare Guglielmo Marconi – eine Uferpromenade, deren zweispuriger und piniengesäumter Straßenverlauf am Palazzo del Cinema vorbeiführt – stets den Eindruck eines geräumigen Radwegs mit eher sporadischem Kraftfahrzeugverkehr. In Cannes hetzen viele Festivalgäste von Terminen getrieben durch die überfüllten Gassen; hier ist alles ein Schauen, Schlendern und Schwadronieren unter dem nur selten von Regenwolken getrübten, frühherbstlichen Himmelblau.


Patchwork. Strenge Sicherheitskontrollen vor dem Saaleinlass gibt es nicht, manchmal wird man als Akkreditierter einfach durchgewunken. Die Architektur rund um das Festivalzentrum wirkt indes wie ein Patchwork aus faschistischen Prunkbauten, Containergebäuden und aufgelassenen Baustellen: Nach wie vor gemahnt ein gigantisches, diskret umzäuntes Loch an die 2009 gescheiterte Errichtung eines neuen Kinopalastes. Damals wurde bei der Ausschachtung Asbest gefunden, 37 Millionen wurden in den Sand gesetzt. Wie es weitergeht, ist unklar – Bequemlichkeit hat ihre Schattenseiten.

Das merkte man heuer auch an Alberto Barberas Zusammenstellung des Wettbewerbs, der zwar eine Handvoll bemerkenswerter Arbeiten bereithielt, aber über weite Strecken planlos dahinduselte und qualitativ wilden Schwankungen unterlag. Ein kraftvolles Kunstwerk wie „Behemoth“ konkurrierte hier mit öder Arthaus-Einheitsware (das angestrengte südafrikanische Liebesdreieck „Endless River“), zerfahrenen Regionalproduktionen (Guiseppe Gaudinos neapolitanische Passionsgeschichte „Per Amor Vostro“) oder „The Danish Girl“, Tom Hoopers Biopic-Frühstarter im Oscarrennen.

Darin spielt der unverhoffte Jungstar Eddie Redmayne (für seine Stephen-Hawking-Verkörperung in „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ bereits mit einem Academy Award ausgezeichnet) den dänischen Künstler Einar Wegener, der sich in den Dreißigern einer der ersten operativen Geschlechtsumwandlungen unterzog. Besonders zu Beginn profitiert das Melodram von einer durchdringenden Künstlichkeit, die ihn von stereotypen Historienschinken unterscheidet: Zu pastellfarbenen Studiokulissen und willkürlichen Weitwinkelaufnahmen kommt Redmaynes Performance, deren Unstetigkeit zum Thema passt. Streckenweise ist es berührend dabei zuzusehen, wie einer sich verschämt und doch erregt einen Seidenstrumpf überstreift oder vor dem Spiegel seine keimende Weiblichkeit probt, bis die maskuline Fassade endgültig zerfällt und Lili Elbe mit roten Lippen und stolzem Gang aus den Trümmern aufersteht.

Alicia Vikander überzeugt als verständnisvolle Lebensgefährtin. Überhaupt geht es weniger um gesellschaftliche Akzeptanz als um die inneren Hürden persönlicher Neuerfindung. Gegen Ende verliert sich „The Danish Girl“ dennoch in pathetischen Oscar-Floskeln und Alexandre Desplats Sentimentalmusik.


Ralph Fiennes Tanzeinlage. Auch Ralph Fiennes ist in Luca Guadagninos „Swimming Pool“-Variation „A Bigger Splash“ wie verwandelt: An der Seite von Tilda Swinton und Matthias Schoenaerts gibt er den alternden Rockproduzenten Harry ungewohnt extrovertiert. Ganz Rampensau und Spaßkanone platzt dieser Derwisch unangekündigt ins Urlaubsglück seiner beiden Bekannten und stellt mit barschem Naturell die Beziehung auf die Probe. Harrys ausgelassene Tanzeinlage zu „Emotional Resuce“ von den Rolling Stones gehörte zu den Glanzmomenten des Festivals – der Film selbst funktioniert als psychologisches Spiegelkabinett, seine Thriller-Ambitionen hätte er sich sparen können.

Tatsächliche Spannung brachte die zweite Festivalhälfte mit zwei politisch aufgeladenen Arbeiten. Regieveteran Amos Gitai nimmt die Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin im November 1995 durch den orthodoxen Fundamentalisten Jigal Amir als Ausgangspunkt für eine gnadenlose Geschichtsstunde: In trocken-protokollarischer Manier, die Spielszenen mit Fernsehauftritten Rabins und dokumentarischem Material kombiniert, malt der Regisseur das finstere und vielschichtige Zeitporträt einer Nation im Würgegriff von Angst und Hetze. Rabin, der den Nahost-Friedensprozess entschieden vorantrieb, wurde damals von radikalen Rabbinern als Landesverräter diffamiert und mit Bannflüchen belegt, die ihn im Wesentlichen zu Freiwild erklärten. Die tatsächliche Gefahr dieser Ächtungen im damaligen Pulverfass-Klima wurde von der Regierung unterschätzt. Gitai macht keinen Hehl aus seiner Botschaft: Der tragische Todesfall ebnete den Weg für die Likud-Hardliner von heute.

Im Gegensatz zu Gitai wählt der türkische Regisseur Ermin Alper in „Frenzy“ einen eher allegorischen Zugang, um die Missstände in seinem Land anzuprangern. Zwei Brüder am Rande der Gesellschaft verlieren in einer langsamen Abwärtsspirale ihren Bezug zur Realität. Kadir arbeitet nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis als buchstäblicher Schnüffler für die Geheimpolizei – er durchwühlt Mülltonnen und soll am Geruch von Chemikalien erkennen, wo Bombenbastler zuhause sind. Der jüngere Ahmet verdient sich sein Geld als Jäger streunender Hunde, in seiner klammen Wohnung ergibt er sich der Einsamkeit. Beide versinken immer tiefer in Paranoia, der zunächst noch relativ nüchterne Film löst sich zusehends in ihren Halluzinationen auf, bis man Fiebertraum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann – ein Polanski-Film für die Erdoğan-Ära.


Puppenspiel für Erwachsene. Doch boten diese Werke keine außerordentlichen Innovationen. Diesbezüglich überraschte vor allem Charlie Kaufman (der Drehbuchautor von „Being John Malkovich“) mit seiner zweiten Regiearbeit „Anomalisa“, entstanden in Kooperation mit dem Animationsexperten Duke Johnson. Es ist ein berückendes Puppenspiel für Erwachsene geworden, in minutiöser Kleinarbeit realisiert, bei dem sämtliche Nebenfiguren sich eine einzige Stimme teilen (die des Schauspielers Tom Noonan).

Folglich hört sich die Welt für den Protagonisten Michael Stone (David Thewlis) äußerst monoton an, bis er bei einer Vortragsreise Lisa (Jennifer Jason Leigh) kennenlernt: Ein Vokalunikat, das ihn aus seinem Solipsismus reißt, zumindest für kurze Zeit. Der dezidiert klein angelegte Film erlaubt sich nur wenige surreale Schlenker, wartet aber mit feinfühligen Beobachtungen auf. Seine Inszenierung von Zwischenmenschlichkeit wirkt glaubwürdiger als die manch eines Realfilms, und er beherbergt eine der schönsten Puppensexszenen seit „Team America“.


Kurzweilige „11 Minuten“. Formal wagemutig zeigt sich auch der Polnische Altmeister Jerzy Skolimowski, der mit „11 Minutes“ den kurzweiligsten Konkurrenzbeitrag lieferte: Wie der Titel verrät, ist die erzählte Zeit des Films denkbar kurz; allerdings ist sie multiperspektivisch aufgesplittert, zahlreiche Momentaufnahmen überlappen sich auf abstruse Weise: Eine Schauspielerin wird beim Vorsprechen von einem lüsternen Regisseur bedrängt, ein Drogenkurier rast auf dem Motorrad durch die Stadt, ein Paar sieht sich zuhause einen Pornofilm an – irgendwie knüpft Skolimowski diese Erzählhäppchen zu einem fulminanten Katastrophenfilm, die Verbildlichung der Chaostheorie.

Dass sich ästhetische Originalität und politische Brisanz nicht ausschließen, beweist Zhao Liangs „Behemoth“, das Ausnahmewerk im diesjährigen Festivalprogramm. Bedeutungsschwanger betitelt nach dem mythischen Riesenbiest – ein Schöpfungspatzer Gottes, der in grauer Vorzeit „täglich tausend Berge“ abgeweidet hat – stürzt der Film den Zuschauer in die widersprüchliche Vision einer Hölle auf Erden. Über zwei Jahre lang drehte der Dokumentarist und Fotograf Zhao im mongolischen Plateau, wo zügelloser Steinkohleabbau die Landschaft in eine schwarze Staubwüste verwandelt hat. „Behemoth“ beginnt als imposantes Bild- und Tongedicht über die Flächen, Farben und Texturen dieser Welt (die spärlich eingesetzte Erzählstimme stellt unterdessen einen streitbaren, weil etwas aufgelegten Bezug zu Dantes „Göttlicher Komödie“ her): Abrupte Sprengungen wirbeln dunkle Wolken auf, mit dem Aufzug geht es schnarrend in die Eingeweide des Schachtsystems, Funkenregen im Hochofen bringen die Leinwand zum Glühen. Stellenweise droht das Trommelfell zu bersten, so heftig wettert die industrielle Kakophonie.

Zugleich ist das alles von einer berauschenden Schönheit – es ist ein Zugang wie bei Michael Glawogger, zwischen exzessiver Überhöhung und poetischer Wahrhaftigkeit. Doch Zhao belässt es nicht bei Kontrastmetaphern (Hirten auf saftigem Weideland, eingekesselt von Schuttwällen) – seine Anklage wird sukzessive konkreter. Immer wieder blickt er in die verdreckten Gesichter der Kohlemalocher, zeigt sie beim mühseligen Waschprozess nach einem langen Arbeitstag oder beobachtet einen von ihnen dabei, wie er sich die wulstigen Schwielen an den Händen aufreißt. Später sieht man sie mit Staublunge im Krankenhaus vegetieren. Der Schluss führt dann unvermittelt ins nahegelegene „Paradies“: Ordos, eine Geisterstadt als Resultat einer Immobilienblase, wo einsame Straßenkehrer Steppenläufer vom Asphalt klauben. Die Aussage ist auch ohne Kommentar unmissverständlich, die Bilder der Beleg. Und obwohl es nicht stimmt, bleibt am Ende das Gefühl: Kino wie dieses kann Berge versetzen.

Fakten

Seit 1932 finden die Internationalen Filmfestspiele Venedig als Teil der Kunstbiennale statt und sind somit das älteste Filmfestival der Welt.

21 Filme traten heuer im Rennen um den Goldenen Löwen gegeneinander an. Im Vorjahr gewann „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“, eine tragikomische Arbeit des schwedischen Regisseurs Roy Andersson.

Den Juryvorsitz hatte der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón („Gravity“) inne. Weiters an der Urteilsfindung beteiligt waren die Filmemacher Lynne Ramsay, Nuri Bilge Ceylan, Hou Hsiao-Hsien, Francesco Munzi und Pawel Pawlikowski, die Schauspielerinnen Elizabeth Banks und Diane Kruger sowie der Autor Emmanuel Carrère.

Einige Stars besuchten dieses Jahr wieder den Lido, darunter Johnny Depp (der zusammen mit seiner Frau, Amber Heard, in Venedig gastierte), Kirsten Stewart und Jake Gyllenhaal.

Österreich war nur mit einem Film vertreten: „Helmut Berger, Actor“ von Andreas Horvath lief in der Nebenschiene „Venice Classics“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2015)

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