Um 6,9 Prozent ist die chinesische Wirtschaft im dritten Quartal gewachsen, so wenig wie seit 2009 nicht mehr, aber stärker als erwartet. Die Neuausrichtung scheint auf dem Weg – wenn man den Zahlen trauen kann.
Wien/Peking. Selten war ein Quartalsergebnis der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt mit so viel Spannung erwartet worden. Gut fiel es nicht aus: 6,9 Prozent Wachstum in China, das ist so wenig wie seit der Finanzkrise nicht mehr. Doch die Märkte reagierten gelassen. Kein Wunder: Die Statistikbehörde hatte das einzige Ergebnis verkündet, mit dem sie Ruhe wahren konnte. Beobachter hatten einen schlechteren Wert erwartet: 6,8 Prozent laut Reuters-Umfrage, nur 6,7 Prozent laut Bloomberg-Rundruf. Das wäre doch deutlich vom Sieben-Prozent-Ziel für 2015 entfernt gewesen, das offiziell in den ersten beiden Quartalen genau erreicht wurde. Hätte Peking aber zum dritten Mal in Folge eine Punktlandung behauptet, wäre ein Aufschrei von Analysten und Kommentatoren auf den Fuß gefolgt. Denn das hätte niemand mehr geglaubt – nach einem Quartal, in dem Chinas Börsen um bis zu 29 Prozent abstürzten, in dem die Bank of China den Yuan abwerten musste und fast alle Indikatoren scharf nach unten wiesen. Die 6,9 Prozent klingen gerade noch plausibel, das Ziel scheint so gerade noch erreichbar. Eine andere Zahl durfte also nicht herauskommen.
Verdächtig gut passen auch die Verschiebungen zwischen den Sektoren. Bekanntlich plant die kommunistische Führung eine Neuausrichtung: Das Reich der Mitte soll sich aus der ökonomischen Mittelklasse eines Schwellenlandes befreien. Nicht mehr verlängerte Werkbank westlicher Konzerne, weniger Investitionen auf Pump in Infrastruktur. Dafür mehr Hochtechnologie, eigene Wertschöpfung und Dienstleistungen. Das lässt höhere Löhne zu. Sie sollen zu stärkerem privaten Konsum führen, der als zusätzliches Standbein die Exportabhängigkeit verringert.
Im Detail unplausibel
Auf genau diesen Wandel scheinen die Zahlen hinzudeuten: Die Industrieproduktion entwickelt sich mit plus 5,7 Prozent besonders gedämpft. Physische Investitionen sind sogar seit der Jahrtausendwende nicht mehr so schwach gewachsen. Dafür entwickelt sich der Servicesektor mit plus 8,4 Prozent seit Jahresbeginn prächtig. Und der Einzelhandel legte zuletzt um stolze zehn Prozent zu. Zu schön, um wahr zu sein? Der Strukturwandel läuft erst an, neue Sektoren müssen sich erst entwickeln. Dafür verschlechtert sich die Lage in der exportorientierten Industrie zu früh und zu stark. Das zeigen, deutlicher als offizielle Wachstumszahlen, unabhängige Indikatoren wie etwa ein sinkender Energieverbrauch. Diese Schwäche drückt auf die Löhne. Zudem haben beim Börsencrash viele Chinesen viel Geld verloren. In einer solchen Situation soll der Binnenkonsum florieren? Und die Dienstleistungen stark wachsen, die davor einzig der Finanzsektor mit seiner mittlerweile geplatzten Blase beflügelt hatte?
Das erscheint vielen dann doch unplausibel, und es passt nicht zu anderen Kennzahlen. Die australische Westpac Bank macht sich darauf folgenden Reim: „Die Statistikbehörde fühlt sich zuweilen eindeutig nicht an Wissenschaft und Arithmetik gebunden.“ (gau)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2015)