„Viktor Orbán ist heute nur noch ein illiberaler Demagoge“

Hungary´s Prime Minister Viktor Orban looks on after delivering his speech during the European People´s Party (EPP) congress in Madrid
Hungary´s Prime Minister Viktor Orban looks on after delivering his speech during the European People´s Party (EPP) congress in Madrid(c) REUTERS (JUAN MEDINA)
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Béla Lakatos, einziger Roma-Stadtbürgermeister, war Mitglied des Fidesz. Dann kam die Flüchtlingskrise. Die Geschichte einer Entfremdung.

Hier im beschaulichen Ács, im Nordwesten Ungarns, hatten sie vor kurzem Stadtfest. Vertreter von Viktor Orbáns Fidesz-Partei hatten zu- und dann wieder abgesagt. Das hat mit dem Bürgermeister zu tun, der ihr Parteifreund war, nun aber nicht mehr ist. Béla Lakatos, der einzige Stadtchef aus der Roma-Minderheit in ganz Ungarn, ist aus Orbáns Regierungspartei ausgetreten. Wegen der Flüchtlingskrise und der Behandlung seiner Minderheit – und vor allem der Art und Weise, wie die Regierung beides miteinander verwoben hat. Es war der Schlussakt einer Entfremdung.

„Der Fidesz war einmal liberal-konservativ. Das sind auch meine Werte“, sagt der Bürgermeister mit den stechend blauen Augen und dem kurzen, schütteren Haar. Er spielt auf die erste Regierungszeit des Fidesz an, von 1998 bis 2002, als Orbán noch Europas Darling war, Ungarn in EU und Nato führte. Doch in den Oppositionsjahren begann die Metamorphose des Viktor Orbán. So schildert es Lakatos. „Heute ist er nur noch ein illiberaler Demagoge“, sagt der Stadtchef und schmunzelt, weil er ja nur Orbán zitiert, der in Ungarn die „illiberale Demokratie“ zur Staatsräson erhoben hat. Und von der alten Garde des Bundes junger Demokraten, wie Fidesz übersetzt heißt, seien nun fast alle weg. Lakatos selbst zögerte lang mit dem Austritt. Zehn Briefe habe er nach Budapest geschrieben, auf einen Kurswechsel gedrängt, sagt er. Auf dem Gipfel der Flüchtlingskrise reichte es ihm. In einer Rede vor Diplomaten hatte Orbán die Roma indirekt mit den Flüchtlingen verglichen, die damals ins Land strömten. „Wir sind seit hunderten Jahren hier“, sagt Lakatos mit lauter Stimme. Justizminister László Trócsányi verstieg sich später zu der Aussage, Europas Roma seien anfällig für „Radikalisierung“. Lakatos hatte da schon sein Parteibuch hingeschmissen.

Noch ist seine bis zu 600.000 Mitglieder zählende Minderheit in ihrer Mehrheit aber noch nicht in der ungarischen Gesellschaft angekommen. Der Bürgermeister gibt daran dem Bildungssystem die Schuld. „In mindestens 50 Prozent der Schulen werden Roma schlechter behandelt. Das ist nicht ihr Problem, sondern das Problem Ungarns.“ Ob er es sich da nicht ein wenig zu einfach mache, die Verantwortung für Integrationsmängel dem Staat in die Schuhe zu schieben? „Wenn ein erwachsener Roma stiehlt, ist das natürlich seine Schuld. Aber alles beginnt in der Schule. Sie tun dort nichts für Roma, und dann wundern sich alle, wenn diese nach dem Schulabbruch anfangen zu stehlen“, sagt Lakatos, der bis 2007 Schuldirektor in Ács und auch Mitglied im Phare-Programm für Ungarn war, über das die EU unter anderem Roma-Projekte fördert.

Der 2014 wiedergewählte Bürgermeister zerpflückt Ungarns aktuelle Roma-Politik, auch jene der „Führer“ der eigenen Minderheit, der sogenannten Roma-Selbstverwaltung, in deren Dunstkreis Gelder für Projekte versickern würden. „Nichts kommt unten an“, sagt er.

Lakatos selbst ist auch unter Nichtroma populär, anders wären in einem Ort mit geschätzten 500 Roma unter 7000 Einwohnern keine Wahlen zu gewinnen. Rassistische Übergriffe gegen ihn habe es in Ács nie gegeben, nur nach landesweiten TV-Auftritten liest er hassgeschwängerte Kommentare gegen Roma in den Internetforen. Einmal haben ihn Polizisten aus der nahen Stadt Györ gestoppt: „Sie suchten einen Kriminellen mit Migrationshintergrund. Und ich fahre wie viele Roma einen alten Audi.“ Und dann erzählt der 46-Jährige noch, wie die Vorgänger-Stadtregierung den Bau einer Straße in die Roma-Siedlung abgelehnt habe, mit der Begründung: „Dann sind die ja schneller in der Stadt.“

„Der Fidesz radikalisiert sich“

Nun, in der Flüchtlingskrise, wird die Stimmung gegen Muslime in postkommunistischen Staaten gern mit der „Angst vor dem Unbekannten“ erklärt. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Zugleich vermischen sich in vielen Köpfen die Bilder der Flüchtlinge mit jenen der Roma in den Siedlungen, zumal sich beide Gruppen rein äußerlich ähneln.

Er könne das ganze Gerede vom „Ungarn für die Ungarn“ nicht mehr hören, sagt Lakatos. „Wir leben im 21. Jahrhundert.“ Die „Propaganda“ von Fidesz diene nur dem Zweck, der extremistischen Jobbik rechts von der Partei nicht zu viel Raum zu lassen. „Der Fidesz radikalisiert sich.“ Er selbst würde 100 Flüchtlinge im Ort aufnehmen, wenn die Anfrage komme. Aber der Bürgermeister gibt sich keinen Illusionen hin – auch da ist er Angehöriger einer Minderheit: Wie in Ungarn sei in Ács eine große Mehrheit dagegen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2015)

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