"Heterogene Republik": Österreich meistert die Asylkrise

Symbolbild: Flüchtlingskinder beim Spielen
Symbolbild: Flüchtlingskinder beim Spielen(c) Helmut Fohringer (APA)
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Ein Verteilerschlüssel statt "Free Choice", syrisches Essen und etliche Hammāms: So könnte es laut Migrationsexperten 2016/17 um Österreich im besten Fall bestellt sein.

Innerhalb von neun Monaten wurden in Österreich in diesem Jahr 56.356 Asylanträge gestellt – und damit um 231 Prozent mehr, als im Vergleichszeitraum 2014. Ein Trend, der sich wohl noch einige Zeit fortsetzen dürfte, meinen Experten, die dauerhafte Lösungen für die große Zahl an Neuzugängen verlangen. Gelingt das, „dann werden die Asylwerber sukzessive in die österreichische Gesellschaft hineinwachsen, was eine willkommene Ergänzung des heimischen Arbeitsmarktes bedeuten würde“, sagt Integrationsexperte Heinz Faßmann von der Universität Wien. Auch Katerina Kratzmann, Leiterin des österreichischen Büros der Internationalen Organisation für Migration (IOM), geht davon aus, dass Österreich mit erhobenem Haupt aus der Asylkrise gehen werde: „In einigen Jahren könnte ein starker sozialer Zusammenhalt hergestellt werden, wir werden eine noch diversere Gesellschaft sein, syrisches Essen lieben lernen und etliche Hammāms im ganzen Land haben.“ Dafür müsste allerdings noch einiges getan werden.

Die „Presse“ hat in fünf Punkten aufgegliedert, wie die Zustände in der Republik 2016/17 im besten Fall sein könnten. (>>> Zum Negativszenario)

Kontrolle / Grenzschutz

Der Optimalfall an den Grenzen würde 2016 laut Faßmann so aussehen: Der Free Choice von Flüchtlingen wird gestrichen, stattdessen wird bereits an den EU-Außengrenzen – wo es eine verstärkte Kontrolle und damit mehr Einsatzkräfte gibt – eine Registrierung vorgenommen, ein Asylvorprüfverfahren eingeleitet und die Menschen anhand eines auf je ein Jahr festgelegten Verteilerschlüssels geordnet in die Staaten der EU weitergeschickt. „Im aussichtslosen Fall, werden die Menschen zurückgeschickt“, erläutert Faßmann. Wenn das gelingt, meint der Professor für Angewandte Geographie, Raumforschung und Raumordnung, dann können bauliche Maßnahmen an den Grenzübergängen entfallen. Auch Kratzmann hält eine Befestigung der EU-Binnengrenzen für keine Lösung und pocht auf ein europäisches Vorgehen: „Ein Zaun ist nicht effektiv, weil er Migrationsströme zwar umlenkt, aber nicht stoppt.“ Der Republik sowie der EU prophezeit sie alternative Grenzen in Form von gemeinsamen Patrouillen an den Grenzübergängen und servicierten Anlaufstellen: „Die Neuankömmlinge werden dort medizinisch und mit Nahrung versorgt sowie registriert“, so ihre Vorstellung.

Integration

Der Schlüssel zur Integration liegt in der sozialen und kulturellen Adaptation, denkbar seien laut der Experten auch Deutschkurse während des Asylverfahrens. Faßmann hält zudem die Anerkennung der Qualifikationen sowie die Möglichkeit zur Nachqualifikation und den Wertetransport für unabdingbar. Die Flüchtlinge müssen begreifen, welche Gesetze gelten, dass beispielsweise die Gleichheit der Religionen besteht und es keine Unterordnung von Frauen unter Männern oder vice versa gibt“, betont Faßmann. Bewusst gemacht würde das in einem funktionierenden Österreich im Zuge von verpflichtenden Integrationskursen – die auch Bedingung für den Erhalt von bestimmten Sozialtransfers seien. Kratzmann meint, dass das für ein funktionierendes Zusammenleben jedoch auch die bereits entstandene Willkommenskultur mit dem Ziel der gegenseitigen Sensibilisierung für Flüchtlinge weiterverfolgt werden müsse.

Bildung

Viele Migranten, die heute ins Land kämen, haben die Schule, Lehre oder das Studium abgebrochen. Ihnen werde, im Optimalszenario, eine Fortsetzung samt Abschluss ermöglicht. Dazu notwendig sind Einstufungsprüfungen, um den richtigen Platz für die Betroffenen zu finden. In Bezug auf Pflichtschüler könnte es „Ghettoklassen im positiven Sinn“ geben, ähnlich den „Willkommensklassen“ in Berlin. Das bedeutet: Die Schüler mit fehlenden Deutschkenntnissen werden in eigenen Klassen unterrichtet und erst in Regelklassen übergeführt, wenn die sprachlichen Hürden einigermaßen beseitigt sind. „Man darf sich durch den Begriff nicht aus dem Ruder werfen lassen“, sagt Professor Faßmann. Kratzmann verweist auf die vielen Freiwilligen, die schon jetzt versuchten, Flüchtlingen beim Spracherwerb zu helfen. Diese sollten in den kommenden Jahren auch von Regierungsseite Unterstützung erfahren. Zwei Fliegen mit einer Klappe möchte Faßmann bei der Kleinkinderbetreuung schlagen: Einerseits spricht er sich für zwei verpflichtende Kindergartenjahre aus, andererseits „sollen die Mütter in die Betreuung integriert werden, um sie mithilfe der Arbeit mit den Kindern ins System zu integrieren“.

Arbeit

Rasche Asylverfahren, die die Flüchtlinge nicht lange in Warteschleifen ausharren lassen, stehen im Idealfall in Österreich auf der Tagesordnung. Für Kratzmann liegt der Schlüssel zu einem adäquaten Arbeitsplatz „aus administrativer Sicht in der Erhebung der vorhandenen Qualifikationen, dem Ausbau von Mentoring-Programmen, aber auch in der Möglichkeit zur Nachqualifikation und der Anerkennung von Berufspraxis bei nicht vorhandenen Zeugnissen“. Dem stimmt auch Faßmann zu: „Hier wird das AMS gefordert sein, Instrumente zu entwickeln, die es ermöglichen, die Kompetenzen der Menschen zu erkennen.“ Den Optimalfall beschreibt er so: Ein Asylwerber, der in seiner Heimat Schweißer war, muss mit den hiesigen Geräten und Anforderungen vertraut gemacht werden – ermöglicht, durch den Ausbau der momentan als Pilotprojekt angelegten Kompetenzchecks.

Wohnen

Die Regierung hat eingesehen, dass es keinen Ausbau des Hochpreissegmentes braucht, sondern vorrangig billige Wohnungen braucht. „Nötig ist mehr leistbarer Wohnraum – nicht nur für Flüchtlinge, sondern für alle. Mehr Startwohnungen sind für anerkannte Flüchtlinge notwendig“, betont Kratzmann. „Das ist eine Art Zwischenstation zwischen Grundversorgung und Selbstständigkeit.“ Diese Ansicht teilt Faßmann, obwohl er zu bedenken gibt, dass trotz größter Anstrengungen eine „Ghettoisierung“ nicht abgewendet werden könne. Allerdings sei eine solche nicht unbedingt negativ zu verstehen: „Es ist gut, die Ressource Familie oder Bekanntschaft zu nützen, wenn man fremd in einem Land ist.“ Mit einer Community im Hintergrund könne man leichter Fuß fassen. Der Bau von Gemeindewohngen kann zu einer Erleichterung bei der Unterbringung führen: „Asylwerber dürfen nicht auf die Überholliste gesetzt werden aber es könnte ein spezielles Kontingent für sie geben“, so Faßmann.

Fazit: Werden die kommenden Wintermonate für intensive Verhandlungen auf nationaler und europäischer wie auch internationaler Ebene genützt, könnten bald schon weitreichende Konzepte auf den politischen Tischen liegen – und mit ihrer Realisierung begonnen werden. In den Jahren 2016 und 2017 würden zwar weitere Flüchtlinge nachrücken, allerdings würde ihr Zustrom in geregelteren und effizienter gestalteten Bahnen verlaufen.

Hintergrund des Artikels

Die „Presse“ hat vier Experten befragt, wie Österreich in den kommenden zwei Jahren aussehen könnte, wenn die richtigen bzw. die falschen Maßnahmen im Umgang mit der Flüchtlingskrise gesetzt werden. Je zwei Experten wurden zu dem bestmöglichen Fall befragt die anderen beiden sollte ein Negativszenario andenken. Das Ergebnis waren zwei Artikel, aufgegliedert in die fünf Bereiche Kontrolle/Grenzschutz, Integration, Bildung, Arbeit und Wohnen.

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