Das riskante Experiment der Physikerin der Macht

File photo of German Chancellor Merkel attending a debate at Bundestag in Berlin
File photo of German Chancellor Merkel attending a debate at Bundestag in Berlin(c) REUTERS (FABRIZIO BENSCH)
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In der Flüchtlingskrise setzt die deutsche Kanzlerin ihre Macht aufs Spiel. In ihrer Amtszeit hat sie bisher eher moderiert und reagiert als agiert. In der EU hat sie sich längst als mächtigste Politikerin etabliert.

Was in aller Welt ist nur in ihre Kanzlerin gefahren, der preußisch-soliden, nüchtern-pragmatischen, jeder Vision unverdächtigen Politikerin, die die Dinge stets methodisch von ihrem Ende her denkt, ja „durchkaut“, wie die gelernte Physikerin dies gern als ihre Maxime ausgibt. Das fragen sich in diesem Herbst Parteifreunde wie Gegner. In der Union schütteln sie zunehmend entgeistert den Kopf über Angela Merkel, es rumort in der CDU und mehr noch in der CSU, und mächtige Parteigranden wie Horst Seehofer, Wolfgang Schäuble oder Thomas de Maizière hintertreiben konsequent ihre Politik. Sozialdemokraten, Grüne und Linke zollen ihr hingegen Respekt und Beifall.

Unmittelbar vor der Sommerpause tätschelte Merkel im unbeholfenen Trost Reem, ein 14-jähriges palästinensisches Mädchen, nachdem sie ihm beschieden hatte, Deutschland könne nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Nach der Rückkehr aus dem Südtirol-Urlaub wenige Wochen später präsentierte sie sich in der Bundespressekonferenz wie verwandelt, wie eine neue Merkel. Emotional und mit optimistischem Tenor prägte sie das Mantra in der Flüchtlingskrise: „Wir schaffen das.“ Als „Mama Merkel“ gefeiert und für die deutsche „Willkommenskultur“ gelobt, posierte sie daraufhin auf Selfies mit syrischen Flüchtlingen, sanft lächelnd wie eine Madonna der Politik.

In einer Feuerwehraktion hat sie, in Absprache mit Werner Faymann, im September die Grenzen geöffnet – zumal die Bilder aus Ungarn sie an den Flüchtlingsstrom aus den letzten Tagen der DDR erinnerten. Ein Ausnahmefall, suggerierte sie zunächst – doch die Bilder von den offenen Grenzen und ihr Diktum, dass für Kriegsflüchtlinge keine Obergrenze gelten würde, waren bereits um die Welt gegangen. Freiheit und Marktwirtschaft – das sind die Prinzipien, die die Naturwissenschaftlerin seit der Wende hochhält, als sie sich in eine neue Welt vortastete. Erst kokettierte Angela Merkel mit der Idee, sich in der SPD zu engagieren, um schließlich als Pressesprecherin im „Demokratischen Aufbruch“ des Lothar de Maizière zu landen, des letzten DDR-Ministerpräsidenten. Vorsicht und Misstrauen zählen zu Merkels Wesenszügen, bedingt durch ihre Sozialisation in der DDR, zumal in einem Pastorenhaushalt.

In einem Auftritt nach dem anderen, in TV-Interviews und regionalen Parteikonferenzen buhlt die Kanzlerin nun für ihre Flüchtlingspolitik. „Wenn wir jetzt anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“, wischte sie im Bundeskanzleramt Vorbehalte beiseite. Das „Sommermärchen“ ist indessen zu Ende, die Stimmung im Herbst gekippt.

„Politik der kleinen Schritte“

Just zu ihrem zehnjährigen Amtsjubiläum setzt Angela Merkel ihr Kapital, das Grundvertrauen der Deutschen, und ihre Macht bewusst aufs Spiel und definiert so ihre Ära neu. Im Wissen, dass sich erstmals seit Langem eine Mehrheit im Land gegen sie richtet, dass sie eine Rebellion in ihren eigenen Reihen riskiert, dass sie und ihre Partei in den Umfragen ins Trudeln geraten sind, reklamiert sie plötzlich Führungsqualitäten, nimmt für sich die in der Verfassung festgeschriebene Richtlinienkompetenz in Anspruch, wie sie politische Führer auszeichnet. Mit seiner Reformpolitik, der „Agenda 2010“, hatte ihr Vorgänger Gerhard Schröder, seine SPD und die Mehrheit der Deutschen verprellt. In der Flüchtlingskrise wirft er ihr nun vor, „Herz zu haben, aber keinen Plan“.

Bei ihrer Wahl zur ersten deutschen Kanzlerin am 22. November 2005 beschwor Merkel in ihrer Regierungserklärung eine „Politik der kleinen Schritte“, ein Leitmotiv, das ihre bisherige Amtszeit bestimmen sollte. Ihr Gelöbnis „Ich will Deutschland dienen“ charakterisiert ihren unprätentiösen Stil. Mit ihrer forschen Reformpolitik hatte sie im Wahlkampf gegen Schröder beinahe eine Schlappe erlitten. In der ersten großen Koalition mit der SPD agierte sie fortan zaghaft und abwartend, sie moderierte und administrierte, während der Koalitionspartner die Politik dominierte und diktierte. In den Augen ihrer konservativen Kritiker mutierte Merkel zur Sozialdemokratin – und das Verb „merkeln“, das ihren Regierungsstil beschreibt, fand Eingang in den Sprachgebrauch.

Das Management der Flüchtlingskrise wird zur Nagelprobe ihrer Kanzlerschaft, mehr als die Euro- und Griechenland-Krise. Wieder einmal schaltet die Kanzlerin in den Krisenmodus, ihre vermeintliche Stärke, gepriesen in Europa und in der Welt, abgebildet auf Titelbildern von „Time“ und „Economist“. Längst ist sie zur mächtigsten – und dienstältesten Regierungschefin innerhalb der EU avanciert, zur gesuchten Ansprechpartnerin Barack Obamas und Wladimir Putins, zur Vermittlerin in der Ukraine-Krise, gehandelt als Friedensnobelpreisträgerin.

Nur die CDU-Heroen Konrad Adenauer und Helmut Kohl waren länger an der Regierung als die geschiedene, kinderlose, ostdeutsche Pastorentocher, deren Vater mit der SPD sympathisierte. Keiner hat den einst katholisch geprägten Männerbund CDU mehr verändert, die Frauen- und Familienpolitik umgekrempelt und gegenüber gesellschaftlichen Strömungen geöffnet als „Kohls Mädchen“, als Frauen- und Umweltministerin belächelt und unterschätzt von der Männerriege um Roland Koch, Christian Wulff und Friedrich Merz, ihren Kontrahenten aus dem Westen.

Merkel wusste indes stets, die Gunst der Stunde zu nutzen. Als sie die Zeit gekommen sah, den CDU-Patriarchen Kohl in der Parteispendenaffäre vom Podest zu stürzen, verfasste sie 1999 als Generalsekretärin einen vernichtenden Gastkommentar in der FAZ und katapultierte sich so – vorbei am beschädigten CDU-Chef Schäuble – 2000 zur Parteichefin. Als Übergangsfigur betrachtet fügte sie sich 2002 widerwillig der Parteiräson und überließ CSU-Chef Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur, um sich drei Jahre später den Zugriff zur Macht zu sichern. Nach und nach baute sie strategisch ihre Machtbastion aus, bis kein Herausforderer übrig blieb.

Dass sie fähig ist, blitzschnell zu reagieren und Dogmen umzuschmeißen, stellte sie 2011 unter Beweis, als sie nach der Atomkatastrophe von Fukushima, quasi über Nacht den Abschied von der Kernkraft einleitete. Nie in ihrer Ära war die Herausforderung größer als jetzt, und sie wird auch über eine vierte Amtszeit entscheiden – und darüber, ob sie überhaupt noch einmal antritt. Ein Projekt, ein politisches Experiment wie die Flüchtlingspolitik abzubrechen, entspricht allerdings ganz und gar nicht ihrem Naturell.

CHRONOLOGIE

Angela Merkel. In den „Wende-Tagen“ 1989/1990 ging es sehr schnell mit politischen Karrieren. Als Vize-Pressesprecherin des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière kam die Physikerin und Pastorentochter Angela Merkel in Kontakt mit Kanzler Helmut Kohl, der sie 1990 erst zur Frauen- und 1994 zur Umweltministerin machte. Als CDU-Generalsekretärin betrieb sie 1999 den Sturz des konservativen Übervaters, im Jahr darauf avancierte sie zur CDU-Chefin. 2002 musste Merkel noch CSU-Stoiber die Kanzlerkandidatur überlassen, seit dem 22. November 2005 amtiert sie als Kanzlerin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2015)

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