Als sich die Meistersinger im Wald verliefen

´H�NSEL UND GRETEL´
´H�NSEL UND GRETEL´(c) APA/HERBERT NEUBAUER
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Erstmals seit der Wiedereröffnung im Haus am Ring: Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“. Dank Christian Thielemann am Dirigentenpult und Regisseur Adrian Noble eine ganz und gar märchenhafte Wiederbegegnung.

Es klingt nach Richard Wagner – über weite Strecken ist es, als mündeten die rezitativisch-deklamatorischen Passagen aus den „Meistersingern von Nürnberg“ nicht in den „Fliedermonolog“ oder das „Preislied“, sondern zur Abwechslung in altvertraute Kinderlieder. „Suse, liebe Suse“, singt die Gretel, und später „Ein Männlein steht im Walde“. Wer da noch nach Aktualisierung ruft, ist selbśt schuld und sollte die Staatsoper meiden, wenn Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ auf dem Programm steht.

Alle anderen, die sich noch einen Rest guter Theaternaivität aus der Kindheit herübergerettet haben, werden an Adrian Nobels Neuinszenierung ihre helle Freude haben. Man spielt ein Märchen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Während der Ouvertüre erleben wir, dass einem gutbürgerlichen Haushalt etwa zur Entstehungszeit der spätromantischen Oper zu Weihnachten eine Laterna magica beschert wird. In deren Projektionen verlieren sich die Kinder – und dringen tief ein in die Zauberwelt der Brüder Grimm.

Mörderische Brillenschlange

Aus dem ärmlichen Häuschen des Besenbinders werden sie fortgeschickt, um im Wald Beeren und Pilze zu sammeln. Die Verirrten schlafen unter dem silberhellen Gesang des Sandmännchens (Annika Gerhards) ein, um anderntags in die Fänge der bösen Hexe zu geraten. Michaela Schuster gibt ein warnendes Beispiel ab: Die anfangs gar nicht unsympathisch wirkende Brillenschlange, die so aussieht, als hätte sie über dem Studium kluger Bücher den Verstand verloren, entpuppt sich rasch als bösartig, schon ihr rauer, gar nicht belcantesker Umgang mit der hochdramatischen Sopranstimme lässt keinen Zweifel daran.

Die grelle musikalische Karikatur steht diametral gegen den schlichten Schöngesang der beiden Kinder: Ileana Tonca ist die liebreizende Gretel, Daniela Sindram der burschikos-hemdsärmelige Hänsel. Beide standen bei der Planung dieser ersten „Hänsel und Gretel“-Neuinszenierung seit mehr als sieben Jahrzehnten nicht auf der Besetzungsliste. Sindram sprang für die mittlerweile opernmüde Elisabeth Kulmann ein, Tonca erst in der letzten Probenwoche für die erkrankte Chen Reiss. Und doch klangen die geschwisterlichen Duette innig und vollkommen harmonisch, sowohl der „Abendsegen“ als auch die freudvollen Kommentare über das Lebkuchenhaus tönten farblich subtil abgemischt und damit passend zum eigentlichen, tatsächlich märchenhaften Ereignis dieser Premiere: dem Spiel des Staatsopernorchesters unter Christian Thielemann.

Optisches Schwächeln . . .

Mochte man optisch noch einwenden, die Dekors von Anthony Ward, anfangs hinreißend schlicht von biedermeierlicher Papiertheaterästhetik abgeleitet, bekämen in der Traumszene kurzfristig eine ein wenig an Kunststoffweihnachtschmuck gemahnende Schlagseite. Doch verfallen die britischen Produzenten da wohl eher für Momente aus dem altdeutschen Märchenbuch- in den „Mary Poppins“-Musicalstil.

Orchestral freilich schwelgt man im nachwagnerischen Klang. Thielemann mischt die Farben, modelliert den Klang und hebt wie ein Maler mit überlegten Pinselstrichen hier eine Cello-Kantilene, da ein Bassklarinetten-Solo hervor. Seine akustische Märchenerzählung könnte auch der kühnste Bühnenzauberer weder in Licht- noch in Bewegungsregie egalisieren.

. . . orchestrales Schwelgen

Was da an einmal schmeichelweich samtigen, dann wieder heftig bewegten, hier drastisch akzentuierten, da subtil gehauchten philharmonischen Klängen aus dem Orchestergraben strömt, gehört zu den großen Klangerfahrungen der jüngeren Wiener Interpretationsgeschichte.

Man hört, warum sich Thielemann dieses Stück ausdrücklich gewünscht hat: Er liebt es, die Spuren Richard Wagners in die schönsten Gefilde der spätesten Romantik zu verfolgen; und immerhin stand Thielemanns andere Gottheit, Richard Strauss, anlässlich der Uraufführung (und übrigens auch anlässlich der Erstaufführung an der Wiener Hofoper) am Dirigentenpult . . . Das Orchester animiert und trägt die Singstimmen, treibt die Handlung voran und kommentiert sie, schmückt sie aus – und lässt nicht nur die Kinder am Ende des ersten Aktes träumen. Animiert singen und tanzen auch die Mitglieder der Opernschule und der Ballettakademie der Staatsoper (Choreografie: Denni Sayers).

Und das Elternpaar, das anfangs so selbstsüchtig und ungeschlacht agiert, erweist sich zuletzt doch als höchst liebevoll: Janina Baechle ist die resolute Mama, Clemens Unterreiner, effektiv im letzten Moment für den erkrankten Adrian Eröd eingesprungen, gibt den hemdsärmeligen Papa.

Wer die sensationelle akustische Seite dieser Premiere genießen möchte, hat heute, Samstag, dazu Gelegenheit: Ö1 sendet den Mitschnitt der Premiere ab 19.3 Uhr. Aber auch das Fernsehen war dabei. Die Aufzeichnung steht am 27. Dezember auf dem nachweihnachtlichen Vormittagsprogramm von ORF 2 (9.05 Uhr).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2015)

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