"Wir wollen Geschichte lebendig machen"

Prof. Wilhelm Hemecker
Prof. Wilhelm HemeckerDie Presse
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Vor allem in Krisenzeiten können Biografien Modelle »gelungenen« Lebens zeigen, sagt der Wissenschaftler Wilhelm Hemecker. Er leitet das Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, das nun seit zehn Jahren besteht.

Sie leiten das Ludwig-Boltzmann-Institut (LBI) für Geschichte und Theorie der Biographie, das es nunmehr seit zehn Jahren gibt. Womit beschäftigen Sie sich und Ihr Team?

Wilhelm Hemecker: Wir beschäftigen uns mit der literarischen Gattung der Biografie. Es gibt ja zwei große Schneisen: Das eine ist das gelebte, gesellschaftlich verfasste Leben, die Sozialwissenschaften konzentrieren sich darauf. Das andere sind im Wesentlichen gedruckte, geschriebene Biografien, die eine Gattung bilden. Aber natürlich gibt es hier Übergänge, denn Biografien repräsentieren nicht wie Romane fiktives, sondern reales, gelebtes Leben.

Aus welchem Bedürfnis heraus kam es zur Gründung?

Ich war in der Nationalbibliothek beschäftigt. Dort gibt es eine große Menge an Quellen und Materialien, die förmlich danach rufen, als Grundlage für Lebensgeschichten verwendet zu werden. Unser Kerninteresse war und ist es, individuelle und darüber hinaus auch allgemein Geschichte lebendig zu machen.

Was ist eine Biografie?

Einfach gesagt: Es ist eine Lebensbeschreibung. Das Wort setzt sich aus den griechischen Wörtern „bios“, das Leben, und „graphe“, die Schrift zusammen. In der Schrift, die ja an sich etwas Totes ist, muss das einstmals Lebendige wieder erweckt werden.

Was macht eine gute Biografie aus?

Eine gute Biografie muss die beschriebene Person in ihrem ganzen Reichtum fassen, in ihrer äußeren und inneren Entwicklung. Reiht man nur Fakten aneinander, sprechen wir von einer Chronik. In der Biografie kommt es darauf an, welche Bedeutung diese Fakten für das Subjekt hatten. Eine Reise kann ein inspirierendes Schlüsselerlebnis sein oder eine lästige Pflicht. Die äußere Biografie zu inneren Prozessen wie Gefühlen, Ängsten in Bezug zu setzten, das macht die Qualität einer Biografie aus. Daran scheitern viele.

„In Bezug setzen“, das ist eigentlich Interpretation?

Ja, und die schwerwiegende Frage ist, wie das überhaupt gelingen kann. Eine elementare Antwort ist Einfühlung. Wenn also Schnitzler schreibt, er habe nach seiner Scheidung tagelang Weinkrämpfe gehabt, aktivieren wir unsere eigenen Affekte über Identifikation und versuchen ihn so zu verstehen.

Demnach hängt viel von der Empathie des Biografen ab.

Natürlich, aber sie darf keinesfalls die intensive und ernsthafte Recherche ersetzen, wir sind auf aussagekräftige Quellen angewiesen. Hineinlesen und Herauslesen sind dann zwei leicht vermischende Vorgänge.

Was kann der Nutzen von Biografien sein?

Biografien, besonders wenn sie umfangreich sind, bieten Lebensmodelle, können narrativ zur Ethik beitragen, vor allem in Krisenzeiten. Sie zeigen zum einen, bei aller Ambivalenz, die menschliches Leben auszeichnet, Modelle „gelungenen“ Lebens, die zur Identifikation bis hin zur Imitation einladen. Daneben gibt es auch sehr negativ verlaufene Lebensgeschichten, die dennoch geschrieben und gelesen werden, ja oft sogar eine ganz besondere Faszination ausüben. Hitler ist ein besonders krasses Beispiel dafür.

Wie ist diese Faszination zu erklären?

Vielleicht kann das religionsgeschichtliche Phänomen, dass Götter von ehemals oft nicht sterben, wenn ihre Zeit um ist, sondern als Dämon untergründig weiterwirken, zu einer Erklärung verhelfen.

Hat sich die Arbeitsweise während der vergangenen Jahre verändert?

Wir müssen heute projekt- und outputorientierter arbeiten. Dadurch ist vielleicht etwas die Möglichkeit abhanden gekommen, über die Theorie der Biografie zu reflektieren. Das hängt auch mit finanziellen Ressourcen zusammen. Unser Institut hat mehrere Partner, die Wienbibliothek, die Universität Wien, die University of Cambridge. Damit sind zugleich Interessen im Spiel, die sich eher auf ganz bestimmte Projekte richten. Etwa eine größere Karl-Kraus-Online-Plattform oder eine Arthur-Schnitzler-Biografie. Wir haben uns über die Jahre spezialisiert: Eine Fokussierung liegt auf der Gruppe der Jungen Wiener Literaten, die in eine umfangreiche Ausstellung münden wird.

Ludwig-Boltzmann-Institute bestehen nur auf eine bestimmte Zeit. So das Konzept. Was würden Sie noch gern schaffen?

Unsere internationalen Kontakte ausbauen, mehr Zeit für eigene Forschung finden und vor allem Perspektiven für meine Mitarbeiter.

Steckbrief


Univ. Prof. Wilhelm Hemecker ist seit 2005 Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Theorie der Biografie.

Das Institut, das am 20. Jänner sein zehnjähriges Bestehen mit einem Festakt begeht, hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Projekte verwirklicht.

Ein Auszug:

2009: Die beiden Publikationen „Die Biografie – Beiträge zur ihrer Geschichte“, „Die Biografie – zur Grundlegung ihrer Theorie“.

2013: Symposium der International Auto/Biography Association Europe.

2014: Publikation der Biografie über Hugo von Hofmannsthal „Orte“. Die Ausstellung „Ich bin ich. Mira Lobe und Susi Weigel“.

2015: „Thomas Bernhard. Eine Biografie“ von Manfred Mittermayer. Clemens Fabry

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2015)

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