Freiheit durch Konflikt: Ralf Dahrendorf gestorben

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Ralf Dahrendorf, Soziologe und „Homo politicus“, ist im Alter von 80 Jahren gestorben. Ein Nachruf auf den Mann, der "Konflikt" als Leitbegriff für Politik und Gesellschaft verstand.

Konflikte sind stets eine schöpferische Kraft, die versteinerte soziale Verhältnisse aufzulockern und neue Formen hervorzubringen vermag. In diesem Sinn ist die Existenz von Konflikten Beweis nicht der Krankheit, sondern der Vitalität eines Betriebes und Wirtschaftssystems.“ Das schrieb 1962 der junge Star der Soziologie in Deutschland, der 32-jährige Ralf Dahrendorf, in einer entlegenen Publikation über „Industrie- und Betriebssoziologie“. Er schrieb es ähnlich in anderen Zusammenhängen: Der – geregelt ausgetragene – Konflikt war für ihn auch die Kraft der Politik, und „Konflikt“ war für ihn der Leitbegriff der wissenschaftlichen Analyse von Politik und Gesellschaft.

Das schlug ein, zunächst in der Soziologie, die damals von der „Systemtheorie“ Talcott Parsons' beherrscht war: Der ging es um das Bewahren von Beständen, um die Erhaltung von Systemen. Nun schuf Dahrendorf mit seiner „Konflikttheorie“ neuen Raum, nicht nur in der Wissenschaft, er praktizierte den Konflikt früh – und bis zum Ende – auch als Homo politicus, der sich in öffentliche Angelegenheiten einmischt: In der „Sehnsucht nach Synthese“ und der „Aversion gegen Konflikt“ sah er den „Grundzug autoritären politischen Denkens“, der die Bundesrepublik in den 60er- Jahren erstarren ließ: „Eines nicht zu fernen Tages“ drohe ein Sturm derer, „die mehr wollen als einen bis zum Überdruss getriebenen politischen Jargon der Eigentlichkeit, der ihnen ständig den Weg zu neuen Zielen verstellt.“

Debatte mit Dutschke

Die Prognose stellte er Anfang 1968, schwer war sie nicht, auch andere wollten heraus aus der Stickluft, die Studenten. Aber mit deren Utopien wollte Dahrendorf nichts zu tun haben, er grenzte sich deutlich ab, als er – auch im Januar 1968 auf dem Dach eines Lautsprecherwagens linker Demonstranten in Freiburg – mit Rudi Dutschke diskutierte. Der nannte ihn und seinesgleichen – Dahrendorf war gerade in die FDP eingetreten – „Fachidioten der Politik“, Dahrendorf replizierte, es gebe „auch Fachidioten des Protests“ (viel später formulierte er härter: „Dutschke war ein konfuser Kopf“).

Dahrendorf fürchtete zum einen, der Studentenprotest könne kontraproduktiv werden, Reformen verhindern; und zum anderen war sein Modell der Revolution und Gesellschaft eben nicht das linke, sondern das liberale, das der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Das mag in seiner Biografie begründet liegen. Sein Vater war im Widerstand, er selbst kam als 15-Jähriger in Gestapo-Haft: „Das elementare Motiv, das sie (die Nazi) bei mir gestärkt, vielleicht auch geweckt haben, ist das Motiv, nicht eingesperrt zu sein, frei zu sein, Möglichkeiten zu haben, nach eigenen Absichten, Wünschen, Lebensplänen zu wirken. Das kommt schon vor aller Demokratie, das heißt, das ist das wirklich Elementare.“

Aber gesichert wird es durch die Demokratie und Marktwirtschaft – strukturell und auch deshalb, „weil sie kalte Projekte sind, die keinen Anspruch erheben auf die Herzen und Seelen von Menschen“ –, das nahm Dahrendorf mit aus dem Studium, zunächst der Philosophie in Hamburg (er dissertierte über Karl Marx, da war er 23), dann der Soziologie an der London School of Economics, da war er 25 und eine eindrucksvolle Erscheinung: „Er fiel durch seine wuchtige Eloquenz ebenso auf wie durch ein kompromissloses, Autorität beanspruchendes Auftreten“, erinnerte sich einer, der 1955 als Journalist bei einer Soziologentagung war, Jürgen Habermas.

„Leidenschaftlicher Volkspädagoge“

Der hielt im Mai, zum 80er, die Geburtstagsrede für den Jahrgangsgenossen: „Mir ging damals der antiutopische Zug eines wie immer auch demokratisch-egalitär verankerten Marktliberalismus gegen den Strich. Aber dann hat mich wieder der aufklärerische Impuls des leidenschaftlich engagierten Wissenschaftlers und Volkspädagogen mitgerissen. Der redete seinen Landsleuten ins Gewissen, dass deutsche Fragen meist nationale und soziale Fragen gewesen sind – und nicht die liberalen und demokratischen Fragen der freiheitsliebenden Völker.“

Er schrieb es ihnen auch ins Gewissen, in unzähligen Publikationen – vor allem: „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ (1965) –, wollte er es selbst in politische Praxis umsetzen; er kam für die FDP in den Bundestag, wurde dann Kommissar der EG (heute: EU), ging 1974 zurück in die Wissenschaft und wurde Chef der London School of Economics. Er nahm die britische Staatsbürgerschaft an, kam wieder in ein Parlament – wurde 1993 geadelt und hatte nun einen Sitz im britischen Oberhaus –, und zog weiter an andere Universitäten.

Auch in seinen Überzeugungen blieb er nicht sesshaft – einmal bei den Konservativen, dann bei Habermas, einmal für, dann gegen das Mehrheitswahlsystem –, sondern einem Versprechen von 1968 treu, er werde die Bereitschaft zur Selbstkorrektur aus der Wissenschaft in die Politik einbringen. Ob allerdings auch sein Gesellschaftsmodell zur Selbstkorrektur fähig ist und nach der Krise „so etwas wie ein ,verantwortlicher Kapitalismus‘“ entstehen wird, dessen war er sich am 10. Mai in der „Presse“ nicht mehr so sicher. Ralf Dahrendorf ist am Mittwochabend nach kurzer Krankheit in Köln gestorben.

LEBEN UND WERK

Baron Dahrendorf wurde als Ralf Gustav Dahrendorf am 1. Mai 1929 in Hamburg geboren. Studien der Philosophie (Hamburg) und Soziologie (London), Lehrtätigkeit in Hamburg und Konstanz. Ende der 60er folgte ein politisches Zwischenspiel – für die FDP im Bundestag –, ab 1974 wieder Forschung (London School of Economics); 1993 wurde er britischer Baron (und trug als Mitglied des Oberhauses den Titel Lord). Viele Werke, vor allem: „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“, „Homo sociologicus“ (1965).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.06.2009)

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