20. Juni 2015: Der Tag, an dem Graz ins Herz getroffen wird

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Eine Amokfahrt durch Graz fordert drei Todesopfer, darunter: ein vierjähriger Bub. Viele Menschen werden teilweise schwerst verletzt.

Warum? Auch ein halbes Jahr nach dem schlimmsten Tag in der neueren Geschichte der Stadt Graz ist nicht so recht klar, welches Motiv der 26-jährige Alen R. hatte, als er am 20. Juni um 12.15 Uhr mit dem grünen Geländewagen seines Vaters vom Griesplatz in die Zweiglgasse einbog.

„Für uns beginnt der Fall hier“, sollte später der Sprecher der Staatsanwaltschaft Graz sagen. Der Fall? Es scheint, als ob es kein passendes Wort für das Geschehene gibt. Man könnte Katastrophe sagen. Doch Katastrophen passieren. Was Alen R. tat, passierte nicht einfach – R. handelte aktiv.

Er fuhr also vom Griesplatz los. Damit begann sie, die Amokfahrt. Auch dieser Begriff trifft wohl nicht ganz zu. Am ehesten stellt man sich darunter ein „Durchdrehen“ als Folge einer psychischen Störung vor. Doch war es das? Darüber zerbrechen sich seither zwei Psychiater den Kopf. Einer ist immerhin so weit, dass er R. als zurechnungsfähig einstuft. Aber dennoch wegen Rückfallsgefahr eine Anstaltseinweisung empfiehlt (zum Prozess wird es im neuen Jahr kommen). Zurechnungsfähig? „Natürlich“, mag man sich als medizinischer Laie denken. R. hat ja offenbar gewusst, was er tut. Kein Rasen – blindlings durch einen imaginären Tunnel. Im Gegenteil: Seine beiden ersten Opfer hatte R. geradezu ins Visier genommen, wie der Grazer Bürgermeister, Siegfried Nagl, erzählte. Er selbst wurde um ein Haar angefahren, war er doch gerade mit seiner Vespa unterwegs, als R. daherkam.

Die Schreckensszene: Nagl sieht, wie der Mann im grünen SUV auf ein auf dem Gehsteig befindliches Paar zuschießt. Nagel später: „Ich glaube, der Mann muss sofort tot gewesen sein. Im nächsten Moment gab der Fahrer Gas und fuhr direkt auf mich zu. Ich hab ihm direkt in die Augen geschaut. Er hat uns regelrecht anvisiert. Ich konnte gerade noch aus seiner Bahn fahren.“

Der Mann auf dem Gehsteig, der 28-jährige Adis D., stirbt. Seine Frau wird schwer verletzt. Die beiden sind frisch verheiratet. Doch das ist erst der Beginn der Amokfahrt, aus der dann (vorübergehend) ein Amoklauf wird. R. hält an, steigt aus, attackiert ein weiteres Paar. Mit einem Messer sticht er auf beide ein, verletzt sie schwer. Dann setzt er sich wieder in sein Auto. Wieder Amokfahrt. In der Fußgängerzone in der Grazer Innenstadt rammt er Menschen, einige erfasst er mit seinem Pkw frontal. Ein vierjähriger Bub und eine 53-jährige Frau sterben. 36 Opfer erleiden zum Teil schwerste Verletzungen. Einige werden ihr Leben lang behindert sein. Nach etwa fünf Minuten und 2,8 Kilometern Fahrt – auch durch die Flaniermeile der Stadt, die Herrengasse, und auch über den Grazer Hauptplatz – biegt R. in die Schmiedgasse ein, bleibt vor der dortigen Polizeiinspektion stehen und stellt sich. Es herrscht Katastrophenalarm, 84 Rettungs- und Notarztfahrzeuge sowie vier Hubschrauber sind im Einsatz. Das öffentliche Leben steht still.

Sätze wie „Ich bin ausgerastet“ oder „Es gab eine Messerstecherei“ gibt R. von sich. Und: Er fühle sich verfolgt. „Von den Türken.“ Gibt es überhaupt ein rational nachvollziehbares Motiv? Wenn ja, ist es in der Person des Täters zu finden: Die Eltern von Alen R. fliehen 1993 aus einer umkämpften muslimischen Enklave in Bosnien-Herzegowina nach Österreich. Schließlich lassen sie sich in Kalsdorf südlich von Graz nieder. Der Vater repariert Schrottautos und verkauft diese nach Ungarn. Der Sohn hilft ihm. Im Privatleben von R. sticht dessen Heirat hervor. Mit seiner auch aus Bosnien stammenden Ehefrau hat er zwei Kinder. Die Eltern von R. werden von Nachbarn nach der Tat als unheimlich und finster beschrieben.

R. selbst ist schon vor dem 20. Juni amtsbekannt. Ein Kleinkalibergewehr wird ihm nach illegalen Schießübungen vor dem Einfamilienhaus der Familie behördlich abgenommen. Nur drei Wochen vor der Amokfahrt wird R. aus dem Haus weggewiesen. Seine 22-jährige Frau berichtet nach der Tat von schweren Gewalttätigkeiten und davon, dass R. sie zwingen wollte, ein Kopftuch zu tragen. Liegt hier das Motiv? War die Amokfahrt eigentlich die Rache für die Wegweisung?

Nur Zufall? Bis heute kann man schwer an einen Zufall glauben, wenn man sich die ersten Opfer genauer ansieht, jenes Paar, das R. anvisiert haben soll. Der Mann stammte aus demselben bosnischen Dorf, Velika Kladuša, wie R. – die schwer verletzte Frau des Getöteten kommt aus dem Nachbardorf. Gerüchte, es sei um unerfüllte Liebe gegangen, konnten nicht ausbleiben. Erhärten ließ sich die These von einer blutigen „Abrechnung“ aber nicht.

Natürlich wurde auch die Frage nach einem Terrorakt gestellt. Gab es einen islamistischen Hintergrund? Die Behörden schlossen dies schon Stunden nach der Amokfahrt reflexartig aus. Dann ermittelte aber doch der Verfassungsschutz. Anwältin Liane Hirschbrich erinnerte daran, dass ihr Mandant in Österreich am Religionsunterricht teilgenommen habe. R. sei katholisch. Von Radikalisierung könne keine Rede sein. Bis heute existiert kein Beweis für ein religiöses Motiv.

Auch auf Facebook und Twitter war R. aktiv. Doch er löschte offenbar alle Texte. Nur einen Eintrag (Facebook) hinterließ er: ein Video zum Rap-Song „Beat it“ mit dem Kommentar „Hurensöhne, not in my name“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2015)

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