Skifliegen: "Es geht in Richtung Weltrekord"

FANNEMEL Anders NOR Aktion FIS Welt Cup Skispringen in Willingen Deutschland am 08 01 2016
FANNEMEL Anders NOR Aktion FIS Welt Cup Skispringen in Willingen Deutschland am 08 01 2016imago/Kosecki
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Geht es nach Hubert Neuper, wird am Kulm der Traum vom Fliegen wieder wahr. Der OK-Chef der Skiflug-WM (14. bis 17. Jänner) über die Tücken des Verstands und seine Inszenierung als "Mister Kulm".

Mit dem Kulm verbindet man weite Flüge und große Erfolge. Sie selbst feierten 1982 als junger Mitterndorfer zwei Heimsiege.

Hubert Neuper: Ein einschneidendes Erlebnis. Damals galt der Finne Matti Nykänen wegen seiner perfekten Technik als unschlagbar. Am Samstag hatte ich gewonnen. Am Sonntag bin ich im ersten Durchgang Schanzenrekord (167 Meter) gefolgen und Nykänen, der „Sauhund“ muss man fast sagen, hat mit 169 Metern nachgelegt (lacht). In der Entscheidung stürmte es, Schneefontänen schossen über den Schanzentisch. Ich habe den Sprung gut erwischt. Dann hat er die Nerven weggeschmissen.

Der Kulm steht auch für Rückschläge. Thomas Morgenstern hat sein Sturz zum Karriereende bewogen. Wird den Athleten heute mehr Risiko abverlangt?

Früher war Skifliegen richtig brutal. Es gab keine Windmessungen, keine Anlaufspur. Der Erste ist einfach mal hinuntergefahren. Das war viel gefährlicher. Durch das weiterentwickelte Material ist Skifliegen professioneller, eine Hightech-Angelegenheit geworden.

Gibt es den perfekten Skiflug?

Wenn man Perfektion erzwingen will, wird man nur vom Verstand gesteuert. Aber der Verstand ist dafür zu mickrig, zu langsam.

Muss der Skispringer den Verstand also ausschalten?

Der Verstand kann nur einen Gedanken nach dem anderen fassen. Das große Ganze entsteht aber erst, wenn etwas automatisiert ist. Der Verstand lässt das nicht zu, er muss immer denken. Ich habe damals meine Gedanken auf einen Punkt konzentriert, nämlich darauf, die Fingerspitzen locker zu lassen. Alles andere habe ich – als ich gut war – geschehen lassen.

Und als Sie schlecht waren . . .

. . . habe ich viel gedacht: Zuerst tiefer, dann Gewicht nach vorn, dann dieses, dann jenes. Alles benötigt eine gewisse Zeit zur Umsetzung. Wenn man aber 23 Meter pro Sekunde zurücklegt, ist es schon der Logik nach nicht möglich, das mit dem Verstand zu bewältigen.

Gregor Schlierenzauer hat die Saison vorzeitig beendet. Kommt er zurück?

Ich sage ja. Er erlebt jetzt die zweite Seite der Medaille, aber das ist ganz normal. Natürlich entsteht da auch Selbstmitleid, denn der Verstand zieht Vergleiche mit den Siegen von früher. Wenn er respektiert, dass es auch für einen Gregor Schlierenzauer eine Zeit gibt, in der er mit seinen besten Sprüngen nur 15. wird, kann er etwas Neues aufbauen.

Sind Skispringer besonders sensibel?

Das kling absurd, aber die große Herausforderung unserer Sportart ist, dass Abläufe funktionieren, ohne dass der Athlet etwas dazu beträgt. Im Training werden die vielen Einzelteile der komplexen Technik automatisiert. Ich habe einmal zwei Wochen lang nur meine Hände beim Absprung ruhig gehalten. Dann war das automatisiert. Die große Kunst ist es, darauf zu vertrauen, dass alle Abläufe ohne Einsetzten des Verstands funktionieren. Denn bei den Dimensionen im Skiflug – du fährst mit 106 km/h auf eine Kante zu und bist acht Sekunden in der Luft – wehrt sich der Verstand. Das sind alles mutige Männer.

Den Schanzenrekord am Kulm hält Severin Freund mit 237,5 Metern. Wird es bei der WM einen neuen geben?

Ich bin davon überzeugt. Bei einem perfekten Sprung mit Aufwind im unteren Teil geht es in Richtung Weltrekord (251,5 Meter, Anm.).

Der Weiteste ist aber noch lang nicht der Sieger. Auch ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel hat das Reglement unlängst kritisiert.

Da bin ich anderer Meinung. Man hat ein System, das mathematisch zu hundert Prozent stimmt. Rückenwind ist zwar nicht mit Punkten zu kompensieren, aber es ist viel fairer geworden. Ich habe 1980 eine Olympiamedaille verloren, weil ich in Lake Placid bei Rückenwind zehn Meter kürzer gesprungen bin als Toni Innauer (Neuper wurde Sechster auf der Normalschanze, Anm.).Das vermeidet man dadurch. Für das Publikum muss die eingeblendete Linie der Maßstab sein. Kompliziert machen wir es nur, weil wir so viel darüber reden.

Das Zuschauerinteresse ist jedenfalls ungebrochen – vor allem im Verhältnis zu den Aktiven.

Ja, unglaublich. Für den menschlichen Verstand ist es nicht nachvollziehbar, warum man Skiflug betreibt. Das hat Anziehungskraft. Außerdem identifiziert sich die Region seit über 65 Jahren mit dem Kulm. Es ist auch ein Volksfest. Die Leute nehmen positive Energie mit. In so dramatischen Zeiten dürfen wir das Menschsein nicht aufgeben, und das ist hier am Kulm spürbar.

Skifliegen am Kulm ist stark mit Ihrer Person verknüpft. Sind Sie ein Selbstdarsteller?

Ich war Linienpilot und Skischulleiter. Peter Schröcksnadel hat mich gefragt, ob ich die Skiflug-WM 1996 am Kulm organisieren will. Ich hatte so etwas noch nie gemacht. Aber die Medien fanden einen zweifachen Tourneesieger, der sich als Manager versucht, interessant. Ich bin also beinhart zu jedem Fest gegangen. Wenn ich eine Kamera gesehen habe, habe ich etwas zum Kulm hineingeredet. Daraus ist diese extreme Personifizierung entstanden. Ich stelle mich selbst dar, weil es für die Sache richtig ist.

Seit den Anschlägen von Paris wird bei allen Großveranstaltungen die Sicherheitsfrage gestellt.

Wir haben mit den Behörden Maßnahmen gesetzt, damit jeder angstfrei dem Sport beiwohnen kann. Es gibt überhaupt keine Bedenken. Wir nehmen das ernst, übertreiben aber auch nicht.

Die berühmteste Bad Mitterndorferin singt bei der WM-Eröffnungsfeier. Ist der Auftritt von Conchita Wurst ein bewusstes Signal?

Wir wollen vor allem jemanden aus der Region zeigen, der gleichzeitig ein Weltstar ist. Ich kenne sie und ihre Eltern, seit ich in Bad Mitterndorf lebe. Innerhalb von drei Minuten war alles ausgemacht.

Das Antikorruptionsgesetz ist Ihnen nach wie vor ein Dorn im Auge?

Wir respektieren die Rahmenbedingungen des Gesetzgebers. Aber ich glaube, dass sie falsch sind. Der Souverän will doch Flaggschiff-Veranstaltungen. Wir zahlen Steuern und liefern zusätzlich 280 Millionen Fernsehkontakte. Aber wenn uns jemand eine VIP-Karte abkauft, wird das angeprangert und Bestechung vermutet. Der Kulm ist wie andere Veranstaltungen auch eine Visitenkarte Österreichs. Als solche sollte man steuerbefreit sein.

Der ÖSV hat eine Medaille als Ziel bei der Heim-WM ausgegeben.

Stefan Kraft und Michael Hayböck wollten die Tournee gewinnen und waren dadurch blockiert. In Bischofshofen haben sie sich dann vom Müssen gelöst und waren viel befreiter. Das nehmen sie auf den Kulm mit. Und das ist nicht nur Zweckoptimismus.

Steckbrief

Hubert Neuper,geboren 1960 in Bad Aussee, hat 1979/80 den ersten Skisprung-Gesamtweltcup gewonnen. Er triumphierte zwei Mal bei der Vierschanzentournee (1979/80, 1980/81), gewann Olympia-Silber (Lake Placid 1980) und WM-Silber (Oslo 1982).

Nach der aktiven Karriere war Neuper Linienpilot und Skischulleiter. Der Sportmanager (Skifliegen am Kulm, World Sports Award) ist verheiratet und hat zwei Töchter. APA

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2016)

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