Unter Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen wird es in der China-Politik keine Kehrtwende geben, allerdings ist ihre liberale Grundgesinnung Peking ein Dorn im Auge.
Peking.Tsai Ing-wen bezeichnet sich selbst als schüchtern. Und tatsächlich wirkt die 59-Jährige mit ihrer etwas gekrümmten Haltung verloren, als Parteifreunde am Samstagabend bei der Verkündung des Wahlsiegs ihre Arme hochreißen. Sie betonte in der Vergangenheit mehrfach, nur ein Zufall habe sie in die Politik gebracht. Bis heute hasse sie öffentliche Auftritte.
Das hat sie trotzdem nicht davon abgehalten, die bisher oppositionelle Demokratische Fortschrittspartei (DPP) bei den taiwanischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zum Sieg zu führen. Und was für ein Sieg: 56 Prozent der Wähler stimmten für Tsai, ihr Herausforderer von der Kuomintang (KMT), der bisherigen Regierungspartei, musste sich mit 31 Prozent geschlagen geben. Sie wird damit die erste Präsidentin des ostasiatischen Inselstaats.
Doch so zurückhaltend die frühere Jus-Professorin in der Öffentlichkeit wirkt – an politischer Entschlossenheit mangelt es ihr nicht. Ihr wird zwar nachgesagt, dass sie sich in Taiwans schwierigem Verhältnis zur übermächtigen Volksrepublik nicht eindeutig positioniere. Die chinesische Führung betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz und droht mit Militärschlägen, falls sich die de facto souverän regierte Insel offiziell für unabhängig erklären sollte.
Die nun abgelöste KMT-Führung hält ebenfalls am „Ein-China-Grundsatz“ fest und hat sich aus Sicht vieler Taiwanesen in den vergangenen Jahren zu sehr bei dem KP-Regime in Peking angebiedert. Sowohl Tsai als auch ihre DPP hingegen haben ihre Wurzeln in der Unabhängigkeitsbewegung. Tsai lehnt den „Ein-China-Grundsatz“ nicht ab – unterstützt ihn aber auch nicht ausdrücklich.
Doch diese Haltung ist kalkuliert. Tsai weiß um die Angst vor allem der jungen Generation vor der Volksrepublik, die sich anders als ihre Eltern und Großeltern so gut wie gar nicht mehr mit China identifiziert. Zugleich weiß Tsai auch um die Gefahren, die von Peking ausgehen. Mehr als 20 Jahre lang war sie als Regierungsberaterin, 2000 bis 2008 sogar als Ministerin für die Beziehungen zur Volksrepublik zuständig.
Engagierte Frauenrechtlerin
Allzu radikalen Unabhängigkeitsforderungen, wie sie Teile ihrer Partei vertreten, erteilt sie eine Absage. Eine völlige Kehrtwende in der China-Politik wird es daher unter Tsai nicht geben. Anders als unter dem nun scheidenden KMT-Präsidenten dürfte sie für Peking dennoch eine sehr viel schwerere Verhandlungspartnerin werden.
Die Kommunistenkader fürchten Tsai aber noch aus anderen Gründen. Gesellschaftspolitisch vertritt die in den USA und London ausgebildete Juristin für asiatische Verhältnisse eine liberale Grundhaltung. Sie setzt sich für Frauenrechte ein, macht sich für die Homoehe stark und fordert mehr sozialen Ausgleich – Probleme, die auch auf dem Festland Reizthemen sind. Peking hat dennoch in der Wahlnacht im chinesischen Internet sämtliche Einträge zu Tsai Ing-wen löschen lassen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2016)