Wenn Pakistani sich als Afghanen ausgeben

Sid
SidImago (Pixsell)
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Österreichs angekündigte Deckelung der Flüchtlingszahlen zeigt auf der Balkanroute vorerst nur einen auf die politische Rhetorik begrenzten Effekt. Über die Aussortierung der Grenzgänger – ein Lokalaugenschein im Durchgangslager im serbischen Sid.

Niemand will sie, aber auch bei eisigen Temperaturen reisen sie. Mit Taschen beladen und mit weinenden Kindern an den Händen drängen sich die Neuankömmlinge im Durchgangslager im serbischen Sid in die stickige Luft des beheizten Zelts. Draußen vor dem Lagertor erzählen fröstelnde Flüchtlinge aus Afghanistan über die ausgestandenen Schrecken mit Bulgariens schlagkräftiger Grenzpolizei – und die noch bevorstehenden Hürden zum Ziel.

Die Regeln hätten sich geändert, berichtet der 20-jährige Saheed aus der ostafghanischen Provinz Kunar: „Man muss nun Österreich oder Deutschland als Ziel eintragen lassen. Sonst darf man nicht auf den Zug nach Kroatien.“ Ein Landsmann zeigt erleichtert sein rechtzeitig korrigiertes Transitpapier. Bei der Einreise nach Serbien habe er dummerweise Belgien als Ziel angegeben: „Zum Glück konnte ich das hier noch in Deutschland ändern.“ 400 Kilometer weiter westlich haben Sloweniens Grenzbeamte am Tag zuvor 15 von 1800 registrierten Flüchtlingen wegen eines „falschen“ und nicht mehr als einreiseberechtigt erklärten Ziellands aus dem Zug gefischt – und wieder nach Kroatien abgeschoben. Nur noch diejenigen Flüchtlinge, die in Österreich und Deutschland Asyl beantragen wollten, dürften einreisen, „alle andere werden abgelehnt“, so Innenministerin Vesna Gjerkes, die die vermeintliche Verschärfung mit Österreichs angekündigter Deckelung der Flüchtlingszahlen begründete: „Wir werden verhindern, dass Slowenien zu einem Hotspot für Flüchtlinge wird.“

Der von Wien geforderte „Dominoeffekt“ eines verschärften Einreiseregimes zur Minderung der Flüchtlingszahlen äußert sich in den Staaten der sogenannten Balkanroute bislang vor allem in Form energischer Politikererklärungen. „Wenn die EU fordert, dass wir keine Wirtschaftsflüchtlinge mehr aufnehmen, werden wir so handeln“, versichert Serbiens Premier, Aleksandar Vučić. Die Angst vor einem Flüchtlingsrückstau ist in den Transitstaaten groß, die Mittel und Möglichkeiten, den Flüchtlingsexodus zu verhindern, jedoch begrenzt.

Nur das schlechtere Wetter hat die Flüchtlingszahlen in den vergangenen Wochen absinken lassen. Seit der Verlegung des Flüchtlingstransits von Serbien nach Kroatien auf die Schiene und die Eröffnung des Lagers in Sid Anfang November sei der Andrang mit durchschnittlich 3000 Menschen am Tag relativ „stabil“, berichtet der Sozialarbeiter Darko Kovačević in Sid. Die auf unter 2000 gefallenen Flüchtlingszahlen der vergangenen Tage hält er für kurzfristige Änderungen „von eher technischer als grundsätzlicher Natur“. Wenn man die Konflikte im Nahen Osten und in der Türkei verfolge, sei im Frühjahr eher wieder mit kräftig zu- als mit abnehmenden Zahlen zu rechnen: „Der Flüchtlingsdruck wird weiter zunehmen.“ Entsetzt reagierte Europas Öffentlichkeit im vergangenen Sommer auf die Bilder von über Grenzwiesen geprügelten Flüchtlingen, an Strände gespülten Kinderleichen oder in Lkw erstickten Schlepperopfern. Nicht zuletzt die Kritik der EU-Partner hat die von dem Ansturm völlig überforderten Transitstaaten mit viel Mühe von Griechenland bis Österreich einen relativ sicheren Transport-Korridor errichten lassen. Doch der Stimmungsumschwung in Westeuropa verstärkt den Druck auf die schleichende Entmantelung des Korridors.

Verloren auf dem Bahnhof

Verloren irrt Mussadiq auf dem Bahnhof in Sid mit einem Zettel in der Hand über den vergitterten Bahnsteig. Er wolle zu seinem Vater nach Düsseldorf, erzählt der 26-jährige Pakistani aus Chiniot. Zwei Monate sei er mit seinem Vetter, ihren beiden Frauen und ihren vier Kindern unterwegs. Doch im kroatischen Slavonski Brod fand ihre Odyssee am Vortag ein vorläufiges Ende. 24 Stunden habe die Polizei ihn und seine Familie ohne Essen und Trinken in einem kalten Zimmer ohne WC eingesperrt, um sie hernach ohne das ihr abgenommene Geld nach Serbien abzuschieben, empört er sich mit müdem Blick: „Was wir nun tun sollen, weiß ich nicht. Aber nach Pakistan gehen wir nicht zurück.“

Seit Ende November ist in den Staaten der Balkanroute auf Druck der EU nur noch Afghanen, Irakern und Syrern die Ein- und Weiterreise gewährt. Die Aussortierung der Grenzgänger anderer Nationen hat aber nicht nur wegen verstärkter illegaler Immigration und der reaktivierten Schleppernetzwerke einen begrenzten Effekt: 90 Prozent der über die Balkanroute ziehenden Flüchtlinge stammen ohnehin aus den drei Bürgerkriegsstaaten.

Pakistani würden sich oft als Afghanen, Marokkaner und Algerier als Syrer ausgeben, aber beim Zugeinstieg von den Dolmetschern der kroatischen Grenzpolizei meist mit „bloßem Auge“ identifiziert, so Sozialarbeiter Kovačević: „Pro Zug werden bis zu 40 von 1000 Passagieren abgewiesen. Theoretisch bleibt ihnen die Möglichkeit, in Serbien Asyl zu beantragen. Doch meist verschwinden sie nach ein paar Tagen – niemand weiß wohin.“ NGOs befürchten, dass der Einreisebann auf dem abbröckelnden Korridor als Nächstes die Afghanen treffen könnte. Doch als sicher beschreiben die nach Sid gelangten Afghanen ihre Heimat keineswegs. Er habe für die US-Armee in der Logar-Provinz als Übersetzer gearbeitet, berichtet der 22-jährige Ashmad: „Als die Amerikaner abzogen, erhielt meine Familie von den Taliban Todesdrohungen.“ Er habe von den Vorfällen in Köln, den wachsenden Vorbehalten in Deutschland gehört: „Aber wir haben ein echtes Problem und brauchen darum Asyl. Wenn uns Deutschland nicht will, gehen wir eben in ein anderes Land.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2016)

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